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Bußgeldverfahren – Einsicht in Messreihe inklusive des öffentlichen Schlüssels bzw. Codes

AG Bergisch Gladbach – Az.: 48 OWi 236/21 (b) – Beschluss vom 07.05.2021

1. Der Verwaltungsbehörde wird aufgegeben, dem Betroffenen, vertreten durch seinen Verteidiger, in digitaler Form die Falldateien der gesamten Messreihe zur Messung vom 27.11.2020 unter der Messprotokollnummer: NRW5-… zur Verfügung zu stellen;

2. Der Verwaltungsbehörde wird aufgegeben, dem Betroffenen, vertreten durch seinen Verteidiger, den zum Öffnen der unter Ziffer 1 genannten digitalen Dateien erforderlichen sogenannten „öffentlichen Schlüssel“ zur Verfügung zu stellen; hilfsweise die vorgenannten Dateien in unverschlüsselter Form zur Verfügung zu stellen.

3. Die Kosten des vorliegenden Verfahrens einschließlich der eigenen notwendigen Auslagen des Betroffenen trägt die Verwaltungsbehörde soweit nicht Gebührenfreiheit gegeben ist.

Gründe

Die Bußgeldbehörde hat am 29.11.2020 eine Ordnungswidrigkeit (Geschwindigkeitsübertretung) festgestellt, welche vom Führer/der Führerin des PKWs mit dem amtlichen Kennzeichen verursacht worden sein soll. Die Bußgeldbehörde richtete daraufhin am 08.01.2021 an den Betroffenen als Halter des Fahrzeuges ein Anhörungsschreiben mit der Bitte um Benennung des Fahrers/der Fahrerin. Hierauf bestellte sich der Verteidiger, Rechtsanwalt T aus Köln und bat um Akteneinsicht unter Einschluss der Lebensakte des Messgerätes und weiterer Unterlagen. Die Bußgeldbehörde übersandte kommentarlos eine vom Polizeipräsidium Köln erhaltene DVD (genauer Inhalt unbekannt – vermutlich nur einzelne Falldatei bzgl. Betroffenen) und fügte ein Schreiben des Polizeipräsidiums Köln vom 26.01.2021 bei, aus dem sich die Rechtsauffassung ergibt, dass lediglich ein Anspruch auf Herausgabe der konkret betroffenen Falldatei bestehe und der Schlüssel bei der zuständigen Eichbehörde anzufordern sei.

Mit Schreiben vom 04.02.2021 beanstandete die Verteidigung, dass ihr eben nicht die unverschlüsselte Messreihe übersandt worden sei. Ebenso fehle es an dem „öffentlichen Schlüssel“. Es sei nicht Sache des Betroffenen, sich diesen zu besorgen.

Die Behörde übersandte daraufhin den gesamten Vorgang unkommentiert dem Gericht im Hinblick auf „den gestellten Antrag auf gerichtliche Entscheidung“.

Das Gericht bewertet das Verhalten der Behörde dahingehend, dass sich diese weiterhin die im Schreiben des Polizeipräsidiums Köln vom 15.03.2021 zum Ausdruck gekommene Rechtsauffassung zu eigen macht, dass der Betroffene weder Anspruch auf die gesamte Messreihe in digitaler Form habe noch einen Anspruch darauf, dass ihm zum Öffnen der Dateien der erforderliche „öffentliche Schlüssel“ zur Verfügung gestellt werde.

Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 06.04.2021 bezüglich der Messreihe und der ergänzende Antrag bezüglich des „öffentlichen Schlüssels“ sind zulässig.

In der Sache haben diese Anträge auch Erfolg.

Aus der fehlenden Reaktion der Bußgeldbehörde bzw. deren kommentarloser Überreichung der Schreiben des Polizeipräsidiums Köln vom 26.01.2021 und 15.03.2021 ist die Weigerung der Bußgeldbehörde zu entnehmen, der Verteidigung die Daten der gesamten Messreihe der fraglichen Messung sowie den hierzu erforderlichen „öffentlichen Schlüssel“ zu überlassen.

Für das erkennende Gericht ist dabei wenig nachvollziehbar, weshalb die zuständige Bußgeldbehörde unter Inkaufnahme der jeweils nachteiligen Kosten für die öffentlichen Kassen stur bei der Rechtsauffassung verbleibt, zur Herausgabe der Messdaten der gesamten Messreihe nicht verpflichtet zu sein, obwohl ihr die gegenteilige Meinung des Gerichts und damit der mutmaßliche Ausgang des Verfahrens aus vorangegangenen Verfahren hinreichend bekannt ist. Noch weniger nachvollziehbar ist für das Gericht, weshalb sich die Verwaltungsbehörde nicht mit der gegenteiligen obergerichtlichen Rechtsprechung und vor allem deren Begründung auseinandersetzt, obwohl sich seit Jahren abzeichnet, dass die vom Polizeipräsidium Köln herangezogene – und von der Verwaltungsbehörde offenbar kritiklos übernommene – Rechtsprechung des OLG Frankfurt vom 26.08.2016 in der gesamten Literatur und Rechtsprechung weitgehend als überholt und veraltet gilt.

Insbesondere das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 12.11.2020 (Az. 2 BvR …) in nicht zu überbietender Klarheit festgestellt, dass für die Akteneinsichtsgesuche der Verteidigung insbesondere in Ordnungswidrigkeitenverfahren folgende grundsätzliche Regeln gelten und jegliche andersartige Handhabung einen verfassungswidrigen Verstoß gegen den Grundsatz des „fairen Verfahrens“ darstellt:

1. Als ein unverzichtbares Element der Rechtstaatlichkeit des Strafverfahrens und daran anknüpfende Verfahren gewährleistet das „Recht auf ein faires Verfahren“ für den dem Betroffenen die Möglichkeit, prozessuale Rechte und Ermittlungen mit der erforderlichen Sachkunde selbständig wahrzunehmen. Dabei ist der Anspruch auf ein faires Verfahren durch das Verlangen nach verfahrensrechtlicher „Waffengleichheit“ von Anklägern und Beschuldigtem gekennzeichnet.

2. Gerade im Bereich des standardisierten Messverfahrens ist grundsätzlich nicht zu beanstanden, dass die Tatgerichte im Ansatz davon ausgehen dürfen, dass die Messung bei Einhaltung der vorgeschriebenen Bedingungen für den Einsatz auch im Einzelfall ein fehlerfreies Ergebnis liefert (wobei eine absolute Genauigkeit nicht zu erzielen ist mit der Folge, dass diesem Umstand durch die Berücksichtigung von Messtoleranzen Rechnung getragen werden kann). Der Tatrichter ist nur dann gehalten, das Messergebnis nochmals genauer zu überprüfen, wenn konkrete Anhaltspunkte für Messfehler gegeben sind.

3. Gerade weil dem so ist, bleibt der Anspruch des Betroffenen, allein aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden, nur dann gewahrt, wenn ihm die Möglichkeit eröffnet wird, das Tatgericht im Rahmen seiner Einlassung auf Zweifel aufmerksam machen zu können. Für einen diesbezüglich erfolgreichen Beweisantrag muss der Betroffene aber konkrete Anhaltspunkte für technische Fehlfunktionen des Messgerätes vortragen können, wohingegen die bloße allgemeine Behauptung, die Messung sei fehlerhaft gewesen, nicht ausreichend ist.

4. Aus dieser prozessualen Situation folgt das Recht des Beschuldigten, möglichst frühzeitigen und umfassenden Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen zu erhalten. Hierzu gehört dann aber unter dem Gesichtspunkt eines fairen Verfahrens auch das Recht, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zwecke der Ermittlung entstanden sind, aber gerade nicht zur Akte genommen wurden. Dadurch werden seine Verteidigungsmöglichkeiten erweitert, weil er selbst nach Entlastungsmomenten suchen kann, die zwar fern liegen mögen, aber nicht schlechthin auszuschließen sind. Die möglicherweise außerhalb der Verfahrensakte gefundenen entlastenden Informationen können dann von der Verteidigung zur fundierten Begründung eines Antrages auf Beiziehung vor Gericht dargelegt werden.

5. Nach allem ist das Anliegen der Verteidigung auf Zugang zu solchen Informationen zum Zwecke der eigenständigen Überprüfung außerhalb des gerichtlich anhängigen Verfahrens deutlich zu trennen von den Anforderungen, die im Rahmen des Einspruchsverfahrens an die Amtsaufklärungspflicht zu stellen sind. Der Anspruch auf Auskunft und Akteneinsicht geht vielmehr weit darüber hinaus.

Das Gericht verkennt dabei nicht, dass sich das Polizeipräsidium Köln – gestützt möglicherweise auf eine entsprechend verbreitete Stellungnahme des Innenministeriums – im vorliegenden Verfahren bereits darauf berufen hat, dass sich gerade aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (hier offensichtlich gemeint die Randnr. 56 – 59) die Richtigkeit der bisherigen Handhabung der hiesigen Ordnungsbehörde ergibt. Eine derartige Bewertung hält das Gericht aber schlichtweg für abwegig.Das Bundesverfassungsgericht hat an jener Stelle (Randnr. 56 – 59) lediglich klargestellt, dass die vorstehenden Grundsätze nicht bedeuten, dass das Recht auf Zugang zu außerhalb der Akte befindlichen Informationen unbegrenzt gilt, da andernfalls die Gefahr uferloser Ausforschung bestünde. Vielmehr bestünden die vorbenannten Rechte des Betroffenen nur hinsichtlich solcher konkret benannter Informationen, die zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stünden und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufwiesen. Hierbei sei allerdings auf die Perspektive des Betroffenen bzw. seines Verteidigers abzustellen.Bei Anlegung dieser „Messlatte“ kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass diese Kriterien vorliegend erfüllt sind. Zum einen ist festzustellen, dass das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung die vorangegangenen Entscheidungen des Amtsgerichts Hersbruck und des Oberlandesgerichts Bamberg aufgehoben hat, die sich genau auf eine Geschwindigkeitsmessung mit dem hier streitgegenständlichen Messgerät bezogen und in denen es genau um die Verweigerung der Herausgabe der Daten der gesamten Messreihe für dieses Messgerät ging.Ausweislich der Entscheidung hat sich das Bundesverfassungsgericht auch mit den Entscheidungen der Fachgerichte beschäftigt, wonach ein Betroffener gegenüber einem standardisierten Messergebnis eben nicht einfach pauschal sich auf etwaige Messfehler berufen kann, sondern unter Darlegung konkreter Anhaltspunkte (die er nur aus der Sichtung der Messreihe gewinnen kann) auf mögliche Fehler bei der Messung hinweisen kann und hierauf weitergehende Beweisanträge stützen kann.Letztlich ist es jedenfalls aus Sicht des Gerichtes evident, dass ein Betroffener, von dem verlangt wird, konkrete Anhaltspunkte für das Vorhandensein etwaiger Messfehler darzulegen, diese Anhaltspunkte nur gewinnen kann, wenn er Einsicht in die Messreihe nimmt, um dann anhand deren Sichtung – gegebenenfalls mit Hilfe eines privaten Sachverständigen – etwaige Ungenauigkeiten bzw. Abweichungen von den Herstellervorgaben aufzuzeigen. Der vom Bundesverfassungsgericht geforderte zeitliche und sachliche Zusammenhang für derartige Informationen ist damit ganz offensichtlich gegeben.Steht somit nach allem fest, dass die Betroffene einen Anspruch darauf hat, die Messreihe sichten zu können, um etwaige Messfehler aufdecken bzw. dem Gericht Zweifel an der Richtigkeit des Messergebnisses aufzeigen zu können, kann auch kein Zweifel daran bestehen, dass die Behörden die Daten so zur Verfügung stellen müssen, dass der Betroffene sie ohne Weiteres sichten kann. Hierzu gehört selbstverständlich die zur Verfügungsstellung eines etwaig erforderlichen Codes bzw. „öffentlichen Schlüssels“.

Die Kostenentscheidung erfolgt aus den §§ 62 Abs. 2 OWiG, 473 StPO.

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