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Bußgeldverfahren – Auslagenerstattungsanspruch bei Freispruch?

LG Gießen – Az.: 7 Qs 45/21 – Beschluss vom 08.06.2021

In der Bußgeldsache wegen Verkehrsordnungswidrigkeit hat die 7. große Strafkammer —Kammer für Bußgeldsachen – des Landgerichts Gießen auf die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Kosten- und Auslagenentscheidung aus dem Urteil des Amtsgerichts Gießen vom 05.03.2021 am 08.06.2021 beschlossen:

Auf die sofortige Beschwerde des Betroffenen wird die Auslagenentscheidung aus dem Urteil des Amtsgerichts Gießen vom 05.03.2021 auf-gehoben und die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse auferlegt.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe:

I.

Gegen den 72jährigen Betroffenen ist wegen des Vorwurfs, am 20.07.2019 um 05:10 Uhr in Linden, A485, Gießen-Langgöns, km 13,860, als Führer des PKW pp. die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 49 km/h überschritten zu haben, am 17.10.2019 durch das Regierungspräsidium Kassel ein Bußgeldbescheid erlassen worden, mit dem gegen den Betroffenen eine Geldbuße von 160,- € und ein Fahrverbot von einem Monat festgesetzt wurde.

Bereits nach Erhalt des Anhörungsbogens vom 27.08.2019 hatte der Betroffene seinen Verteidiger beauftragt, der daraufhin Akteneinsicht beantragte und mitteilte, dass der Betroffene keine Angaben zur Sache machen werde.

Das Regierungspräsidium Kassel forderte daraufhin zur Identifizierung des Betroffenen von der Stadt Idstein ein Vergleichsfoto, welches am 13.09.2019 dort einging. Es handelte sich dabei um ein zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre altes Vergleichsfoto des Betroffenen aus dem Jahre 2017.

Mit Schreiben vom 17.09.2019 wurde dem Verteidiger Akteneinsicht gewährt.

Nachdem am 17.10.2019 sodann der oben benannte Bußgeldbescheid erlassen wurde, legte der Betroffene durch seinen Verteidiger mit Schriftsatz vom 01.11.2019 hiergegen Einspruch ein und gab an, dass der Betroffene und die auf den Fahrerfotos abgebildete Person nicht identisch seien, da die abgebildete Person deutlich jünger sei. Er wies zudem auf die Unterschiede bei der Augenstellung und der Ohren hin und teilte mit, dass das betreffende Fahrzeug in der Vergangenheit von weiteren Personen gefahren worden sei.

Nachdem das Verfahren sodann zur Entscheidung an das Amtsgericht Gießen abgegeben wurde, gab der Verteidiger des Betroffenen mit Schriftsatz vom 29.06.2020 an, dass es ihm ein Rätsel sei, wie man bei Ansicht des Fahrerfotos tatsächlich annehmen könne, dass es sich bei der abgebildeten Person um eine in 2 Monaten 72 Jahre alt werdende Person handele.

Mit Schriftsatz vom 21.07.2020 wies er erneut gegenüber dem Amtsgericht darauf hin, dass der Betroffene aufgrund des nach seiner Ansicht ersichtlichen Altersunterschieds nicht mit der Person auf dem Messfoto identisch sein könne und regte an, die Akte mit den beiden Fotos einem Sachverständigen informatisch vorzulegen. Zudem regte der Verteidiger zur Vermeidung einer Hauptverhandlung an, das Verfahren im Beschlusswege einzustellen und gab an, in diesem Fall auf eine Erstattung der notwendigen Auslagen des Betroffenen verzichten zu wollen.

Mit weiterem Schriftsatz vom 10.08.2020 wies der Verteidiger sodann das Amtsgericht darauf hin, dass dem Betroffenen eingefallen sei, dass er sich zum Tatzeitpunkt am 20.07.2019 im Urlaub in Ägypten befunden habe und dieser daher nicht Fahrer gewesen sein könne. Die Belege für die Unterlagen der Reise im Zeitraum vom 13.07.2019 bis zum 24.07.2019 wurden vom Verteidiger vorgelegt.

Am 05.03.2021 hat das Amtsgericht den Betroffenen mit Urteil aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Dabei stellte das Gericht in den Urteilsgründen fest, dass der Betroffene nicht Fahrer des betroffenen PKW zur Tatzeit gewesen sei, da auf dem Lichtbild der Messung eine andere Person zu sehen sei als der Betroffene. Bei Ansehung des Betroffenen in der Hauptverhandlung und Abgleich mit dem Lichtbild der Messung bestehe kein Zweifel daran, dass es sich um unterschiedliche Personen handele.

Das Amtsgericht hat allerdings davon abgesehen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen. Dabei wurde hinsichtlich der Auslagen-entscheidung die Vorschrift des § 109 a Abs. 2 OWiG angewandt.

Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Betroffene zwar bereits gegenüber der Verwaltungsbehörde vorgetragen habe, nicht der Fahrer gewesen zu sein, den Fahrer habe er aber bis heute nicht benannt.

Im Rahmen der dann vorgenommenen Einzelfallprüfung, ob der Name des wahren Täters einen entlastenden und wesentlichen Umstand darstellt, hat das Amtsgericht festgehalten, dass im Falle der Benennung des wahren Fahrers ein Abgleich mit einem beigezogenen Lichtbild der benannten Person eine Abkürzung der Ermittlungen herbeigeführt haben würde. Da bereits aufgrund des Alters des Betroffenen und dem jüngeren Aussehen des Fahrers Zweifel an der Fahrereigenschaft bestanden hätten, die jedoch durch Abgleich mit seinem beigezogenen Lichtbild nicht haben ausgeräumt oder bestätigt werden können, wäre vorliegend eine rechtzeitige Benennung des Fahrers für den Verfahrensausgang kausal gewesen. Im Rahmen der Einzelfallprüfung sei deshalb zu konstatieren, dass dies zu einer Abkürzung der Ermittlungen geführt hätte. Im Übrigen sei ein anerkennenswerter Grund für das Verschweigen des tatsächlichen Fahrers nicht ersichtlich, sodass es im Rahmen der Ermessensausübung nicht angebracht erscheine, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen.

Gegen die Kostenentscheidung zu den notwendigen Auslagen aus dem Urteil vom 05.03.2021, das dem Verteidiger ausweislich Empfangsbekenntnis am 24.03.2021 zugestellt wurde, wendet sich der Betroffene mit der über seinen Verteidiger eingelegten sofortigen Beschwerde mit Schriftsatz vom 11.03.2021.

Der Verteidiger hält die Nichtauferlegung der Auslagen des Betroffenen zu Lasten der Staatskasse für unbillig. Der Betroffene werde dafür sanktioniert, dass er von seinem durch die Verfassung eingeräumten Schweigerecht Gebrauch gemacht habe. Von der Kostenentscheidung darüber, dass die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse zur Last fallen, könne nur ausnahmsweise abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen des § 109a Abs. 2 OWiG vorlägen, was hier nicht der Fall sei.

Er meint zudem, dass Umstände, die der Bußgeldstelle oder dem Amtsgericht bereits als bekannt vorliegen, nicht mitgeteilt werden müssten. Da beiden ein Fahrerfoto von vergleichsweise sehr guter Qualität vorgelegen habe, habe der Betroffene ähnlich schnell, wie in der Hauptverhandlung am 05.03.2021 geschehen, als Fahrer ausgeschlossen werden müssen. Auf die Nichtbenennung des Fahrers sei es hierbei nicht angekommen.

Außerdem sei bei der zu treffenden Auslagenentscheidung der Normzweck des § 109a Abs. 2 OWiG zu beachten, der Missbräuche vorbeugen wolle und nur in Fällen heranzuziehen sei, in denen ein nicht rechtzeitiges Vorbringen als missbräuchlich oder unlauter anzusehen sei. Da der Betroffene die Fahrereigenschaft gegenüber der Verwaltungsbehörde und dem Amtsgericht stets bestritten habe, greife der Normzweck nicht ein. Die Wahrnehmung eines verfassungsrechtlich eingeräumten Rechts, sich zu einem Vorwurf nicht zu äußern, sei nicht als missbräuchlich anzusehen.

Die Frage, ob es für den Betroffenen dennoch zumutbar gewesen sei, den Fahrer zu benennen, müsse hier nicht entschieden werden, da das Unterbleiben von Angaben zur möglichen Fahrereigenschaft einer anderen Person für das weitere Verfahren nicht wesentlich gewesen sei. Es existiere zunächst kein Erfahrungssatz, dass einer Benennung des Fahrers gefolgt worden wäre. Im Übrigen sei die Beweislage so beschaffen, dass das Verfahren wegen des sichtbaren Altersunterschiedes auf den Fotos bereits früher habe eingestellt werden müssen.

II.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet.

Nach § 109a Abs. 2 OWiG kann von der Regel, dass bei einem Freispruch auch die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse auferlegt werden, abgesehen werden, soweit dem Betroffenen Auslagen entstanden sind, die er durch ein rechtzeitiges Vorbringen entlastender Umstände hätte vermeiden können.

Dabei stellt § 109a Abs. 2 OWiG eine Modifikation der Grundregel des § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 StPO dar, der sich im Bußgeldverfahren als unbefriedigend und unzureichend erwiesen hatte.

Die Anwendung der Vorschrift des § 109a Abs. 2 OWiG setzt indes voraus, dass dem Betroffenen entlastende Umstände bekannt gewesen sind, die er nicht rechtzeitig vorgebracht hat, obwohl ihm dies möglich und zumutbar gewesen wäre.

Entlastende Umstände müssen, wie in § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 StPO wesentlich, d.h. für das „Ob“, das „Wie“ und die Dauer der Verfolgung des Betroffenen und den Umfang der Ermittlungen von maßgeblichem Einfluss sein (vgl. KK-OWiG/Hadamitzky, 5. Aufl. 2018, OWiG § 109a Rn. 10).

Wie auch das Amtsgericht in der angefochtenen Entscheidung zutreffend ausführte, ist streitig, ob der Name des wahren Täters einen wesentlichen Umstand darstellt (vgl. KK-OWiG/Hadamitzky, 5. Aufl. 2018, OWiG § 109a Rn. 10).

Insoweit kommt es im Einzelfall darauf an, ob der Name des anderen für den Gang und die Dauer der weiteren Ermittlungen, etwa zur Prüfung der Wahrhaftigkeit der Einlassung des Betroffenen, relevant ist (vgl. KK-OWiG/Hadamitzky, 5. Aufl. 2018, OWiG § 109a Rn. 10; LG Cottbus, Beschluss vom 25. 4. 2007 – 24 Qs 66/07).

Das Amtsgericht ist im Rahmen der von ihm vorgenommenen Einzelfallprüfung in unzutreffender Weise von einem wesentlichen Umstand ausgegangen. Gestützt hat es diese Feststellung darauf, dass im Falle der Benennung des wahren Fahrers ein Ab-gleich mit einem beigezogenen Lichtbild der benannten Person eine Abkürzung der Ermittlungen herbeigeführt hätte, sodass eine rechtzeitige Benennung des Fahrers für den Verfahrensausgang kausal gewesen sein würde.

Zwar mag es sein, dass eine Benennung des wahren Fahrers durch den Beschwerdeführer zu einer Abkürzung des Verfahrens gegen ihn geführt hätte, allerdings hat das Amtsgericht verkannt, dass es auf die namentliche Benennung des Fahrzeugführers hier ersichtlich nicht ankam.

Der Name des wahren Fahrzeugführers wurde im gesamten Verfahren, auch in der durchgeführten Hauptverhandlung, gerade nicht bekannt. Der Beschwerdeführer wurde durch das Amtsgericht bereits nach vergleichender Inaugenscheinnahme seiner Person in der Hauptverhandlung und einem Abgleich mit dem Messfoto freigesprochen. Entsprechend führte das Amtsgericht in den Urteilsgründen aus, dass bei Ansehung des Betroffenen in der Hauptverhandlung und Abgleich mit dem Lichtbild keine Zweifel daran bestünden, dass es sich um unterschiedliche Personen handele. Eines Vergleichs mit dem wahren Fahrzeugführer bedurfte es damit nicht.

Im Übrigen wurde der Name des tatsächlichen Fahrers auch nicht in der Weise relevant, dass er zur Prüfung der Wahrhaftigkeit der Einlassung des Betroffenen, der die Fahrereigenschaft gegenüber der Verwaltungsbehörde und dem Amtsgericht stets bestritten hatte, erforderlich gewesen wäre.

Die Kostenfolge des § 109a Abs. 2 OWiG vermag schließlich auch nicht der Umstand rechtfertigen, dass erst mit Schriftsatz vom 10.08.2020 das Amtsgericht darauf hingewiesen wurde, dass der Betroffene sich zum Zeitpunkt der Fahrt im Sommerurlaub befunden habe und entsprechende Buchungsunterlagen für den Zeitraum vom 13.07.2019 bis 24.07.2019 vorgelegt wurden.

Es lässt sich zum einen nicht annehmen, dass durch ein rechtzeitiges Vorbringen der Urlaubsabwesenheit des Betroffenen das Verfahren zu einem früheren Zeitpunkt eingestellt und das Entstehen der Auslagen des Betroffenen vermieden worden wäre, da auch dem Amtsgericht im Hinblick auf die Möglichkeit des Nichtantretens von gebuchten und bereits bezahlten Reisen die Reiseunterlagen für eine Einstellung des Verfahrens nicht ausgereicht haben. Die Durchführung der Hauptverhandlung wurde dennoch für erforderlich gehalten, weil aus Sicht des Amtsgerichts aufgrund der in der Akte befindlichen Lichtbilder – auch für die Verwaltungsbehörde — nicht ersichtlich oder gar offensichtlich sei, dass der Betroffene tatsächlich nicht der Fahrer des Fahrzeuges zur Tatzeit gewesen sei. Diese Zweifel vermochten die erst mit anwaltlichem Schreiben vom 10.08.2020 eingereichten Reiseunterlagen auch nicht ausräumen.

Zum anderen ist bei der vorzunehmenden Ermessensausübung der Normzweck der Regelung des § 109a OWiG zu beachten. Er will Missbräuchen vorbeugen und ist deshalb nur in Fällen heranzuziehen, in denen nicht rechtzeitiges Vorbringen als missbräuchlich oder unlauter anzusehen ist. (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.08.2013 – 2 BvR 864/12)

Ein solches missbräuchliches oder unlauteres Verteidigungsverhalten lässt sich hier nicht annehmen. Der nicht rechtzeitige Vortrag zur Urlaubsabwesenheit erfolgte nach der unwiderlegten Begründung des Betroffenen deshalb erst mit Schriftsatz vom 10.08.2020, da dem Beschwerdeführer dies erst zu diesem Zeitpunkt aufgefallen sei. Die Fahrereigenschaft hat der Betroffene vor Abgabe des Verfahrens an das Amtsgericht gegenüber der Verwaltungsbehörde und sodann auch mit weiteren anwaltlichen Schreiben gegenüber dem Amtsgericht indes stets bestritten.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der § 467 StPO, § 46 Abs. 1 OWiG.

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