Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen – Az.: 8 B 1937/21 – Beschluss vom 24.02.2022
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 8. Dezember 2021 mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 6. September 2021 – 14 K 6433/21 – wird hinsichtlich der Ziffern 1 und 2 wiederhergestellt und hinsichtlich der Ziffer 4 angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,- Euro festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg. Auf der Grundlage der von ihm fristgerecht dargelegten Gründe (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) ist der angefochtene Beschluss zu ändern und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 6. September 2021 wiederherzustellen bzw. anzuordnen.
Der Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, wonach vorliegend keine Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Ordnungsverfügung bestehen, nicht. Im Rahmen der allein möglichen summarischen Prüfung sind die Erfolgsaussichten der Klage des Antragstellers vielmehr jedenfalls als offen zu bewerten (1.). Die daher anzustellende Interessenabwägung fällt zu Gunsten des Antragstellers aus (2.).
1. Das Verwaltungsgericht stützt seine Entscheidung in Bestätigung der Argumentation der Antragsgegnerin im Wesentlichen darauf, dass die Erteilung der „Ausnahmegenehmigung vom 3. Juni 2013“ von der Pflicht zum Tragen eines Schutzhelms, die die Antragsgegnerin durch die streitbefangene Ordnungsverfügung in Anwendung von § 48 Abs. 1 VwVfG NRW zurückgenommen hat, rechtswidrig gewesen sei, da die Antragsgegnerin ihr Ermessen bei der Erteilung der Ausnahme nicht ausgeübt habe. Dem setzt der Antragsteller zu Recht entgegen, dass die ihm erteilte Ausnahmegenehmigung nicht von diesem Datum, sondern aus dem Jahr 1998 stammt. Bei dem Bescheid vom 3. Juni 2013 handelt es sich – worauf auch die Antragsgegnerin in ihrer Beschwerdeerwiderung hinweist – lediglich um eine ersatzweise gefertigte Zweitschrift, die dem Antragsteller – womöglich infolge des Verlustes seiner Geldbörse – ausgestellt wurde. Hieraus folgt zwar nicht, dass die angefochtene Ordnungsverfügung „ins Leere“ ginge. Der in der angefochtenen Ordnungsverfügung verwendeten Formulierung „Hiermit wird die Ihnen am 03.06.2013 von der Pflicht zum Tragen von Schutzhelmen erteilte Ausnahmegenehmigung Nr. 27/1998 zurückgenommen.“ lässt sich jedenfalls im Wege einer verständigen Auslegung entnehmen, welche Rechtsfolge – nämlich die Rücknahme der Ausnahmegenehmigung (nur) hinsichtlich der Pflicht zum Tragen eines Schutzhelms (vgl. § 21a Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5b Alt. 2 StVO) – die Antragsgegnerin angeordnet hat. Sowohl die Antragsgegnerin als auch das Verwaltungsgericht stützen ihre Rechtsauffassung aber ausdrücklich darauf, dass im Jahr 2013 eine Ermessensausübung unterblieben sei (vgl. S. 2 und 3 der angefochtenen Ordnungsverfügung, S. 3 und 5 des Beschlussabdrucks). Hierauf kommt es indes vorliegend nicht an, denn maßgeblich für die Frage der Rechtswidrigkeit der zurückgenommenen Ausnahmegenehmigung ist die Sach- und Rechtslage im Jahr 1998.
Ob die dem Antragsteller zu diesem Zeitpunkt erteilte Befreiung von der Helmpflicht – die ihm ebenfalls erteilte Befreiung von der Gurtpflicht hat die Antragsgegnerin nicht zurückgenommen – rechtswidrig war, ist nach gegenwärtigem Sach- und Streitstand zumindest offen. Für den vom Verwaltungsgericht angenommenen Ermessensausfall spricht jedenfalls nicht, dass die Ausnahmegenehmigung selbst keine Ermessenserwägungen enthält. Nach § 39 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG NRW bedarf ein Verwaltungsakt keiner Begründung, soweit die Behörde – wie hier – einem Antrag entspricht oder einer Erklärung folgt und der Verwaltungsakt nicht in Rechte eines anderen eingreift. Auch der Umstand, dass sich aus dem vorliegenden Verwaltungsvorgang keine Ermessenserwägungen ableiten lassen, spricht nicht zwingend dafür, dass solche nicht stattgefunden haben. Die Antragsgegnerin gibt selbst an, Ausnahmegenehmigungen von der Helmpflicht seien nach Vorlage eines ärztlichen Attestes gleichsam „automatisch“ erteilt worden. Dies mag für die Verkennung eines Ermessensspielraums sprechen. Die dargelegte Vorgehensweise könnte aber etwa auch Ausdruck einer zum damaligen Zeitpunkt (noch) großzügiger geübten Verwaltungspraxis gewesen sein. Was diesbezüglich im Jahr 1998 tatsächlich der Fall gewesen ist, bedürfte der Aufklärung im Hauptsacheverfahren. Die Antragsgegnerin, in deren Sphäre diese Umstände fallen, hat hierzu – erst recht in Bezug auf den hier maßgeblichen Erteilungszeitpunkt – nichts Substantiiertes vorgetragen.
Ebenfalls offen erscheint, ob die Ausnahmegenehmigung – wie das Verwaltungsgericht sinngemäß hilfsweise ausführt – für den Fall, dass man von einer Ermessensausübung durch die Antragsgegnerin ausginge, wegen eines Ermessensfehlgebrauchs als rechtswidrig anzusehen wäre. In diesem Zusammenhang ist zwar insbesondere zutreffend, dass nach derzeitiger Aktenlage keine Ermittlungen der Antragsgegnerin dazu stattgefunden haben dürften, ob ein besonders dringliches Interesse des Antragstellers an der Befreiung von der Helmpflicht vorlag. Gleichwohl muss dieser Umstand nicht zur Rechtswidrigkeit der Ausnahmegenehmigung führen. Auch wenn das vom Verwaltungsgericht zitierte Bundesverwaltungsgericht davon ausgeht, dass ohne ein solches Interesse kein Anspruch auf die Erteilung einer Befreiung begründet werden kann,
vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 3 C 24.17 -, juris Rn. 14 ff.; Beschluss vom 8. Februar 2017 – 3 B 12.16 -, juris Rn. 3,
folgt hieraus nicht zwingend, dass eine ohne diese Voraussetzung erteilte Befreiung in jedem Fall rechtswidrig ist. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass die seinerzeitige Ermessensentscheidung großzügiger war, als es die von der damaligen Sachbearbeitung behördenintern zu beachtenden ermessensleitenden Verwaltungsvorschriften vorschrieben, würde dies allein nicht zu einer objektiven Rechtswidrigkeit i. S. d. § 48 Abs. 1 VwVfG NRW führen, da diese Vorschrift einen Verstoß gegen Außenrecht voraussetzt.
Vgl. Suerbaum, in Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 48 Rn. 42, 43.
Auch insofern bedürfte es im Hauptsacheverfahren der Ermittlung der konkreten Umstände, die zur Erteilung der Befreiung geführt haben.
Steht die Rechtswidrigkeit der Ausnahmegenehmigung nach alledem nicht fest, bestehen notwendigerweise ebenfalls Zweifel an der Rechtmäßigkeit der hier angefochtenen Rücknahme (Ziffer 1 des Bescheids). Diese setzen sich hinsichtlich der in der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung ebenfalls angeordneten Rückgabe der ausgestellten Ausnahmegenehmigung (Ziffer 2 des Bescheids) und der Androhung der Festsetzung eines Zwangsgeldes (Ziffer 4 des Bescheids) fort.
Auf die Frage, ob eine Aufhebung der – im Bescheid vom 14. Juli 1998 für jederzeit widerruflich erklärten – Ausnahmegenehmigung im Wege des Widerrufs nach § 49 VwVfG NRW in Betracht zu ziehen sein könnte, kommt es hier nicht an. Die Antragsgegnerin, die die seinerzeit ärztlich attestierte, dem Tragen eines Schutzhelms entgegen stehende Erkrankung bislang nicht ansatzweise in Zweifel gezogen hat, hat die Möglichkeit eines Widerrufs bisher erkennbar nicht erwogen und müsste insofern ggf. eine eigenständige Ermessensentscheidung treffen.
2. Ausgehend davon, dass die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Ordnungsverfügung nicht offensichtlich zu bejahen ist, sondern sich als offen darstellt, überwiegt bei der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO notwendigen Abwägung das Interesse des Antragstellers, vorerst weiterhin von der Helmpflicht befreit zu sein, das Interesse der Allgemeinheit an der sofortigen Vollziehung der Ordnungsverfügung. Dasselbe gilt bei einer von der Rechtmäßigkeit der Ordnungsverfügung losgelösten Interessenabwägung, nachdem die Teilnahme des Antragstellers am Straßenverkehr in der bisherigen Form mehr als 23 Jahre lang von der Antragsgegnerin unbeanstandet geblieben ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG. Der hiernach in Ansatz zu bringende Auffangwert von 5.000,- Euro war mit Blick auf Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 um die Hälfte zu reduzieren. Die mit der Ordnungsverfügung verbundene Zwangsgeldandrohung bleibt außer Betracht (Nr. 1.7.2 des Streitwertkatalogs).
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).