Skip to content
Menü

Ausbleiben des Betroffenen in der Hauptverhandlung – Erkundigungspflicht des Tatrichters

KG Berlin – Az.: 3 Ws (B) 388/14 – 122 Ss 113/14 – Beschluss vom 20.08.2014

1. Auf den Antrag des Betroffenen auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts wird der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 23. Juni 2014 aufgehoben.

2. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 12. Februar 2014 wird verworfen.

3. Der Betroffene hat die Kosten der Rechtsbeschwerde zu tragen.

Gründe

Der Polizeipräsident in Berlin hat gegen den Betroffenen mit Bußgeldbescheid vom 15. November 2013 wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit eine Geldbuße in Höhe von 280,00 Euro verhängt. Nachdem das Amtsgericht auf den rechtzeitigen Einspruch des Betroffenen Termin zur Hauptverhandlung auf den 12. Februar 2014 (11.10 Uhr) anberaumt hatte, hat der Verteidiger des Betroffenen mit Schriftsatz vom 11. März 2014 beantragt, den Termin aufzuheben. Zur Begründung hat er mitgeteilt, der Betroffene sehe sich aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, den Termin wahrzunehmen; er könne weder stehen noch längere Zeit sitzen. Dieses Schreiben hat der Verteidiger per Fax übersandt, allerdings nicht an die auf der Ladung mitgeteilte Nummer der Geschäftsstelle, sondern an die Nummer der Poststelle des Amtsgerichts. Dort ist es am 11. März 2014 um 17.31 Uhr eingegangen. Bei der Geschäftsstelle der Abteilung ist der Schriftsatz am 13. März 2014 gestempelt worden. Im Hauptverhandlungstermin, zu dem weder der Betroffene noch sein Verteidiger erschienen sind, hat das Amtsgericht den Einspruch mit der Begründung verworfen, der Betroffene sei trotz ordnungsgemäßer Ladung ohne genügende Entschuldigung im Hauptverhandlungstermin ausgeblieben. Gegen das am 28. Februar 2014 zugestellte Urteil hat der Betroffene am 6. März 2014 Rechtsbeschwerde eingelegt, die durch seinen Verteidiger mit am 7. April 2014 eingegangenem Schriftsatz begründet worden ist. Das Amtsgericht hat die Rechtsbeschwerde mit Beschluss vom 23. Juni 2014 als unzulässig verworfen, weil das Rechtsmittel nicht fristgerecht begründet worden sei. Der Betroffene wendet sich gegen die Verwerfung seiner Rechtsbeschwerde mit dem Antrag auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts. Der Antrag hat Erfolg, nicht aber die Rechtsbeschwerde selbst.

1. Der nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG iVm § 346 Abs. 2 Satz 1 StPO statthafte und im Weiteren zulässige Antrag auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist begründet. Die Beschwerdeanträge sind frist- und formgerecht gestellt worden. Da das Urteil in Abwesenheit des – auch nicht durch einen schriftlich bevollmächtigten Verteidiger (§ 73 Abs. 3 OWiG) vertretenen – Betroffenen verkündet worden ist, begann die Wochenfrist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde mit der Zustellung des Urteils (§ 79 Abs. 4 OWiG) am 28. Februar 2014. Sie endete mit dem Ablauf des 7. März 2014. Die Monatsfrist zur Anbringung der Beschwerdeanträge und ihrer Begründung (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG iVm § 345 Abs. 1 Satz 1 StPO) schloss sich hieran an, so dass die Rechtsmittelbegründung am 7. April 2014 rechtzeitig bei dem Amtsgericht eingegangen ist.

2. Die nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde bleibt erfolglos.

a) Allerdings ist die Verfahrensrüge, das Amtsgericht habe die durch ein ärztliches Attest belegte Verhandlungsunfähigkeit übergangen, zulässig erhoben. Die Verfahrensrüge erfüllt die Anforderungen des § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG iVm § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Sie teilt mit, wann und mit welchem Inhalt der auf die Aufhebung des Hauptverhandlungstermins antragende Schriftsatz der Verteidigung vor Verhandlungsbeginn beim Amtsgericht eingegangen ist. Auch erklärt sie sich dazu, dass der Schriftsatz nicht an die Geschäftsstelle der Abteilung gerichtet war, deren Nummer der ebenfalls mitgeteilten Umladung (Rechtsmittelschrift S. 2) zu entnehmen ist, sondern an die Poststelle des Amtsgerichts. Schließlich ist der Verfahrensrüge zu entnehmen, dass der Aufhebungsantrag erst am 13. Februar 2014 bei der Geschäftsstelle einging. Diese Angaben versetzen den Senat in die Lage zu überprüfen, ob das Gericht gegebenenfalls entscheidungserhebliche Tatsachen, nämlich den Terminsaufhebungsantrag und das Entschuldigungsvorbringen, übergangen hat, obwohl es diese hätte zur Kenntnis nehmen können und müssen.

b) Die Verfahrensrüge dringt jedoch nicht durch. Die Rechtsbeschwerde beanstandet zu Unrecht, dass die Tatrichterin einen rechtzeitig eingegangenen Antrag auf Terminsverlegung unbeachtet gelassen und rechtliches Gehör verletzt habe. Vielmehr hat das Amtsgericht den Einspruch nach § 74 Abs. 2 OWiG rechtsfehlerfrei verworfen.

aa) Das Gericht darf den Einspruch nach § 74 Abs. 2 OWiG nur verwerfen, wenn der Betroffene ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben ist. Entscheidend ist nicht, ob sich der Betroffene entschuldigt hat, sondern ob er entschuldigt ist. Daher muss der Tatrichter von Amts wegen prüfen, ob Umstände ersichtlich sind, die das Ausbleiben des Betroffenen genügend entschuldigen (vgl. BGHSt 17, 391 [§ 329 StPO]). Ergeben sich konkrete Hinweise auf einen Entschuldigungsgrund, so muss er ihnen nachgehen. Da erfahrungsgemäß die Geschäftsstelle eines Gerichts auch noch kurz vor einem Termin davon verständigt wird, dass der Betroffene verhindert sei, muss sich der Tatrichter, wenn überraschend weder der Betroffene noch sein Verteidiger zum Termin erschienen sind, aufgrund seiner Fürsorge- und Aufklärungspflicht vor Erlass eines Verwerfungsurteils bei der Geschäftsstelle vergewissern, ob eine Mitteilung über die Verhinderung des Betroffenen vorliegt (vgl. BayObLG VRS 83, 56; OLG Köln VRS 102, 382; OLG Stuttgart Justiz 1981, 288). Das Rechtsbeschwerdegericht hat daher grundsätzlich zu prüfen, ob der Tatrichter dieser Aufklärungspflicht nachgekommen ist (vgl. BayObLG VRS 83, 56). War auf der Geschäftsstelle bereits ein Entschuldigungsschreiben oder eine entsprechende fernmündliche Nachricht über eine Verhinderung des Betroffenen zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts über die Verwerfung des Einspruchs bei Gericht eingegangen, ist die fehlende Kenntnis des Richters belanglos (vgl. Senat NZV 2009, 518; 2003, 586 und Beschluss vom 4. September 2000 – 3 Ws (B) 373/00 – [juris]; OLG Köln VRS 102, 382; OLG Stuttgart aaO; OLG Brandenburg NStZ-RR 1997, 275; Senge in Karlsruher Kommentar, OWiG 3. Aufl., § 74 Rn. 35; a.A. OLG Köln VRS 93, 357 [fehlende Kenntnis kann nur über ein Wiedereinsetzungsgesuch beanstandet werden]).

bb) Zwar ist nicht ersichtlich, dass die Bußgeldrichterin vor dem Erlass des Verwerfungsurteils mit der Geschäftsstelle Rücksprache gehalten hat. Ob dies geschehen ist, kann jedoch dahinstehen. Denn aus der Verfahrensrüge ergibt sich, dass der Verteidiger die Entschuldigung an die zentrale Poststelle des Amtsgerichts übermittelt hat und der Schriftsatz erst nach der Hauptverhandlung zur Geschäftsstelle gelangt ist. Sollte die Richterin somit nicht bei der Geschäftsstelle Rücksprache gehalten haben, wäre die Verletzung der Fürsorge- und Aufklärungspflicht jedenfalls nicht ursächlich für das Verwerfungsurteil geworden; das Urteil könnte nicht darauf beruhen.

Die Fürsorge- und Aufklärungspflicht des Gerichts gebietet es entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht, bei allen möglichen und zugelassenen Einlaufstellen für digitale und physikalische Post zu ermitteln, ob Hinweise für eine Entschuldigung vorliegen (vgl. OLG Bamberg NZV 2009, 355; OLG Köln VRS 93, 357; Göhler/Seitz, OWiG 16. Aufl., § 74 Rn. 31). Dies wäre nicht nur unter den Verhältnissen eines Großstadtgerichts eine Überspannung der Aufklärungspflicht (vgl. BayObLG VRS 83, 56). Jedenfalls bei dem Amtsgericht Tiergarten, dem größten Amtsgericht Deutschlands, können derartige Erhebungen unter den Bedingungen eines üblicherweise dynamisch und komplex verlaufenden Sitzungstags nicht verlangt werden. Im Gegenteil ist gerade bei einem verteidigten Betroffenen ein Mitdenken zu erwarten und zu verlangen, dass sehr eilige, dem Abteilungsrichter vor einer Hauptverhandlung vorzulegende Post unmittelbar an die Geschäftsstelle übermittelt wird.

cc) Zuzugeben ist der Rechtsbeschwerde, dass das Straf- und Ordnungswidrigkeitenprozessrecht verschiedentlich davon absieht, Verteidigerverhalten dem Angeklagten oder Betroffenen zuzurechnen. Der dem zugrunde liegende Rechtsgedanke findet hier jedoch keine Anwendung. Das Rechtsbeschwerdegericht hat das angefochtene Urteil auf Rechtsfehler zu überprüfen. Eine kausale Rechtsverletzung kann hier aber gerade nicht festgestellt werden, weil das Tatgericht auch aus dem Fürsorgegedanken keine Rechtspflicht trifft, eine unzweckmäßige Rechtsverfolgung zu antizipieren und ihr entsprechend zu begegnen. Auf die Zurechenbarkeit von Verteidigerverhalten kommt es bei der vom Senat geprüften Verletzung der Fürsorge- und Aufklärungspflicht damit nicht an. Ob die Einreichung eines Verlegungsantrags bei einer unter den gegebenen Umständen undienlichen Gerichtsstelle Anlass zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hätte geben können, muss der Senat nicht entscheiden (vgl. BayObLG aaO; OLG Köln VRS 93, 357). Das Wiedereinsetzungsverfahren, in dem dies nicht geltend gemacht oder von Amts wegen erörtert worden ist, ist rechtskräftig abgeschlossen.

3. Soweit die Rechtsbeschwerde beanstandet, dass das Amtsgericht sich in dem Urteil nicht mit dem schriftlichen Verteidigungsvorbringen befasst hat, verkennt sie, worauf die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend hinweist, dass das Gericht keine Sachentscheidung, sondern ein reines Prozessurteil gefällt hat.

4. Die allgemein erhobene Sachrüge führt bei dem hier angefochtenen Prozessurteil nur zur Prüfung von Verfahrenshindernissen, die nicht vorliegen.

5. Die Kostenentscheidung folgt für die Rechtsbeschwerde aus §§ 46 Abs. 1 OWiG, § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.

 

Hinweis: Informationen in unserem Internetangebot dienen lediglich Informationszwecken. Sie stellen keine Rechtsberatung dar und können eine individuelle rechtliche Beratung auch nicht ersetzen, welche die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles berücksichtigt. Ebenso kann sich die aktuelle Rechtslage durch aktuelle Urteile und Gesetze zwischenzeitlich geändert haben. Benötigen Sie eine rechtssichere Auskunft oder eine persönliche Rechtsberatung, kontaktieren Sie uns bitte.

Haben Sie einen Bußgeldbescheid erhalten?

Mit unserer Hilfe teure Bußgelder und Fahrverbote vermeiden!

Wir überprüfen Ihren Bußgeldbescheid kostenlos und unverbindlich auf Fehler und die Möglichkeit eines Einspruchs.
Blitzer Bußgeld prüfen

Rechtstipps aus dem Verkehrsrecht

Urteile über Bußgeld und Ordnungswidrigkeiten

Unsere Kontaktinformationen

Rechtsanwälte Kotz GbR

Siegener Str. 104 – 106
D-57223 Kreuztal – Buschhütten
(Kreis Siegen – Wittgenstein)

Telefon: 02732 791079
(Tel. Auskünfte sind unverbindlich!)
Telefax: 02732 791078

E-Mail Anfragen:
info@ra-kotz.de
ra-kotz@web.de

Rechtsanwalt Hans Jürgen Kotz
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Rechtsanwalt und Notar Dr. Christian Kotz
Fachanwalt für Verkehrsrecht
Fachanwalt für Versicherungsrecht
Notar mit Amtssitz in Kreuztal

Bürozeiten:
MO-FR: 8:00-18:00 Uhr
SA & außerhalb der Bürozeiten:
nach Vereinbarung

Für Besprechungen bitten wir Sie um eine Terminvereinbarung!