Übersehenes Zeichen: Amtsgericht Tiergarten verurteilt Geschwindigkeitsüberschreitung
Im Zentrum der juristischen Betrachtung steht häufig die Frage, inwieweit Verkehrsteilnehmer für ihre Handlungen im Straßenverkehr verantwortlich gemacht werden können, insbesondere wenn es um die Übertretung von Geschwindigkeitsbegrenzungen geht. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist das Konzept des Augenblicksversagens, welches eine kurzzeitige und unabsichtliche Abweichung vom erwarteten Verhaltensstandard beschreibt. Dieses Phänomen wird oft in Fällen diskutiert, in denen Verkehrsteilnehmer Verkehrszeichen, wie Geschwindigkeitsbegrenzungen, übersehen oder missachten.
Die rechtliche Herausforderung besteht darin zu bewerten, inwiefern ein Augenblicksversagen als Entschuldigungsgrund für Verkehrsverstöße anerkannt werden kann und welche Rolle es im Rahmen von Rechtsbeschwerden spielt. Die Abwägung zwischen individueller Verantwortung und unvorhersehbaren Momenten der Unaufmerksamkeit ist hierbei ein kritischer Punkt. Zudem ist die rechtliche Einordnung solcher Fälle relevant, da sie Auswirkungen auf mögliche Sanktionen, wie Bußgeldbescheide, und weitreichendere Folgen, wie die Fahrerlaubnisentziehung, haben kann.
Dieser juristische Diskurs spiegelt sich in der Praxis oft in Entscheidungen der Gerichte wider, wobei Urteile wie das des Amtsgerichts Tiergarten und die darauf folgenden Rechtsbeschwerden nicht nur für die unmittelbar Betroffenen, sondern auch für die Auslegung des Verkehrsrechts insgesamt von Bedeutung sind. Solche Urteile dienen als Präzedenzfälle und beeinflussen die allgemeine Rechtsauffassung und die Gewährleistung der Verkehrssicherheit.
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✔ Das Wichtigste in Kürze
Das Kammergericht Berlin verwirft die Rechtsbeschwerde eines Betroffenen, der eine Geschwindigkeitsbegrenzung missachtet hat, und betont, dass Augenblicksversagen nur in Ausnahmefällen als Entschuldigungsgrund anerkannt wird.
Zentrale Punkte aus dem Urteil:
- Verwerfung der Rechtsbeschwerde: Das Kammergericht Berlin lehnt die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten ab.
- Kein Erfolg der Sachrüge: Die vom Betroffenen vorgebrachte Sachrüge hat keinen Erfolg, da die Urteilsgründe ein Augenblicksversagen nicht stützen.
- Eingeschränkte Anwendbarkeit des Augenblicksversagens: Das Gericht stellt klar, dass Augenblicksversagen nur in seltenen, besonders gearteten Fällen als Rechtfertigung dient.
- Standort der Messstelle: Der Hinweis, dass die Messstelle sich im Bereich einer Schule befindet, wird als Argument gegen das Augenblicksversagen gewertet.
- Unzureichende Einlassung des Verteidigers: Die Einlassung des Verteidigers wurde nicht wirksam in die Hauptverhandlung eingeführt.
- Keine wirksame Einlassung des Betroffenen: Der Betroffene hat sich über das Geständnis der Fahrereigenschaft hinaus nicht eingelassen.
- Zweifel an der Berechtigung zum Augenblicksversagen: Das Überschreiten der Geschwindigkeitsbegrenzung um 12 km/h lässt Zweifel an der Berechtigung zum Augenblicksversagen aufkommen.
- Kostentragung des Rechtsmittels: Der Betroffene muss die Kosten seines Rechtsmittels tragen, was die finanziellen Folgen von Verkehrsdelikten unterstreicht.
Übersicht
Geschwindigkeitsbegrenzung Missachtet: Ein Fall von Augenblicksversagen?
In einem bemerkenswerten Rechtsfall hat das Kammergericht Berlin (KG Berlin) die Rechtsbeschwerde eines Betroffenen zurückgewiesen, die sich auf ein sogenanntes „Augenblicksversagen“ bei einer überschrittenen Geschwindigkeitsbegrenzung bezog. Das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten, welches am 10. November 2022 gefällt wurde, stand dabei im Mittelpunkt der juristischen Auseinandersetzung. Der Betroffene hatte gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung verstoßen, ein häufiges und doch ernstzunehmendes Delikt im Verkehrsrecht.
Die Kernproblematik: Verfehlte Rechtsbeschwerde und Ihre Folgen
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen stützte sich auf das Argument des Augenblicksversagens. Dieser Begriff, der in der Rechtsprechung nur in seltenen und besonders gearteten Ausnahmefällen Anwendung findet, wurde vom Gerichtjedoch nicht anerkannt. Der Senat des Kammergerichts bemerkte, dass die Sachrüge im Wortlaut der Rechtsbeschwerde keinen Erfolg hatte. Die Urteilsgründe ließen keine ausreichenden Anhaltspunkte erkennen, die ein Augenblicksversagen rechtfertigen könnten.
Argumente und Gegenargumente im juristischen Diskurs
Interessanterweise war auch die Einlassung des Verteidigers ein zentraler Punkt in der Diskussion. Das Gericht vertrat die Ansicht, dass die vorprozessual abgegebene Einlassung des Verteidigers keinen Einfluss auf das Urteil hatte. Es wurde festgestellt, dass diese Einlassung nicht wirksam in die Hauptverhandlung eingeführt worden war. Zudem wurde in der Rechtsbeschwerde nicht behauptet, dass der Verteidiger die Einlassung in der Hauptverhandlung wiederholt hätte. Dieser Aspekt unterstreicht die Komplexität juristischer Verfahren und die Bedeutung sorgfältiger Verfahrensführung im Verkehrsrecht.
Schlussfolgerungen des Gerichts: Verantwortung und Rechtsprechung
Das Gericht zog auch in Betracht, ob der Betroffene sich auf Augenblicksversagen berufen konnte, da er die innerörtlich geltende Geschwindigkeitsbegrenzung nicht nur verfehlt, sondern um 12 km/h überschritten hatte. Diese Überlegung führte zu einer klaren Positionierung des Gerichts gegen das Argument des Augenblicksversagens. Abschließend wurde festgelegt, dass der Betroffene die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen hat, was die ernsten finanziellen Konsequenzen von Verkehrsdelikten und deren rechtliche Folgen unterstreicht.
In diesem Fall wird deutlich, wie wichtig die genaue Beachtung der Geschwindigkeitsbegrenzungen und ein umsichtiges Verhalten im Straßenverkehr sind. Das Urteil des KG Berlin sendet ein klares Signal über die Wichtigkeit der Verkehrssicherheit und die strengen Anforderungen, die an die Geltendmachung von Augenblicksversagen im Rahmen juristischer Verfahren gestellt werden. Dieser Fall stellt somit ein prägnantes Beispiel für die Rechtsprechung im Bereich des Verkehrsrechts dar und verdeutlicht die Bedeutung einer fundierten rechtlichen Vertretung in derartigen Fällen.
✔ Wichtige Begriffe kurz erklärt
Was ist unter einem „Augenblicksversagen“ zu verstehen und in welchen Fällen kommt dies in Betracht?
Der Begriff „Augenblicksversagen“ bezeichnet in der deutschen Rechtswissenschaft den Umstand, dass der Handelnde für eine kurze Zeit die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Dieser Begriff spielt eine wichtige Rolle bei Verkehrsordnungswidrigkeiten, insbesondere als Einwand gegen ein bußgeldrechtliches Regelfahrverbot.
Ein Augenblicksversagen kann der Ahndung einer Ordnungswidrigkeit als grobe oder beharrliche Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers entgegenstehen. Es ist jedoch kein ausreichender Grund, den Schuldvorwurf der groben Fahrlässigkeit herabzustufen, wenn die objektiven Merkmale der groben Fahrlässigkeit vorliegen.
Ein Beispiel für ein Augenblicksversagen könnte sein, wenn ein Autofahrer ein die Geschwindigkeit anzeigendes Schild übersieht und dadurch eine Geschwindigkeitsüberschreitung begeht. In solchen Fällen kann das Augenblicksversagen als Argument für eine mildere Sanktion dienen.
Ein weiteres Beispiel wäre, wenn ein Autofahrer eine rote Ampel überfährt, weil ihm unmittelbar vor Erreichen der Ampel ein Insekt ins Auge geflogen ist. In diesem Fall könnte es sich um ein entschuldbares Augenblicksversagen handeln.
Es ist jedoch zu betonen, dass das Augenblicksversagen nur in Ausnahmefällen anerkannt wird. So hat das OLG Bamberg entschieden, dass eine Berufung auf ein Augenblicksversagen nur dann in Betracht kommt, wenn der Betroffene aufgrund eines Wahrnehmungsfehlers eine Geschwindigkeitsbeschränkung übersehen hat und zugleich die innerhalb geschlossener Ortschaften gültige Höchstgeschwindigkeit überschritten hat.
Es ist auch wichtig zu beachten, dass das Augenblicksversagen den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit nur dann entkräftet, wenn weitere Umstände hinzutreten.
Insgesamt ist das Augenblicksversagen ein komplexer Rechtsbegriff, der eine genaue Prüfung der Umstände erfordert. Es ist daher ratsam, sich bei Verkehrsordnungswidrigkeiten von einem Anwalt beraten zu lassen.
Das vorliegende Urteil
KG Berlin – Az.: 3 ORbs 22/23 – 162 Ss 9/23 – Beschluss vom 27.02.2023
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 10. November 2022 wird verworfen.
Erläuternd bemerkt der Senat:
1. Die dem Wortlaut der Rechtsbeschwerde ausschließlich erhobene Sachrüge hat keinen Erfolg. Die insoweit allein maßgeblichen Urteilsgründe geben keinen Anlass, ein so genanntes Augenblicksversagen, von dem ohnehin nur in besonders gearteten Ausnahmefällen ausgegangen werden kann, in Rechnung zu stellen. Der Hinweis, die Messstelle befinde sich im Bereich einer Schule, spricht jedenfalls eher gegen als für ein solches Augenblicksversagen.
2. Die Auffassung der Rechtsbeschwerde, eine vom Verteidiger vorprozessual abgegebene „Einlassung“ hätte dem Tatgericht Anlass geben müssen, sich vertieft mit der Möglichkeit eines Augenblicksversagens auseinanderzusetzen, geht fehl. Der Senat geht bei dem unterbreiteten Sachstand davon aus, dass die Erklärung gar nicht in die Hauptverhandlung eingeführt worden ist. Nach den Urteilsfeststellungen hat sich der Betroffene (über das Geständnis der Fahrereigenschaft hinaus) nicht eingelassen. Dass der Verteidiger die zuvor schriftsätzlich eingereichte Erklärung in der Hauptverhandlung als eigene wiederholt hätte, was bei einer „Einlassung“ ohnedies an die Grenzen des Logischen stieße, ergibt sich nicht aus dem Urteil und wird durch die Rechtsbeschwerde nicht behauptet. Weder aus dem Urteil noch aus der Rechtsbeschwerde ergibt sich im Übrigen, dass der Betroffene abwesend und der Verteidiger zur Vertretung bevollmächtigt war, so dass letzterer überhaupt eine Einlassung wirksam abgeben konnte. All dies wäre in einer den Voraussetzungen der §§ 79 Abs. 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Verfahrensrüge darzulegen gewesen.
3. Ohnedies muss als zumindest zweifelhaft gelten, dass sich ein Kraftfahrer auf Augenblicksversagen berufen kann, der nicht einmal die innerörtlich üblicherweise geltende Geschwindigkeitsbegrenzung (§ 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO) einhält, sondern, wie hier, um 12 km/h überschreitet (vgl. Senat, Beschluss vom 6. September 2017 – 3 Ws (B) 204/17 – [unveröffentlicht]).
4. Die Stellungnahme des Verteidigers vom 23. Februar 2023 lag vor, gab aber zu einer anderen Bewertung keinen Anlass.
Der Betroffene hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen (§§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 1 Satz 1 StPO).