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Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde wegen fehlenden Urteilsgründen

KG Berlin – Az.: 3 Ws (B) 148/21 – Beschluss vom 03.06.2021

In der Bußgeldsache wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Kammergerichts am 3. Juni 2021 beschlossen:

Der Antrag der Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 3. März 2021 wird verworfen.

Die Betroffene hat die Kosten ihrer nach § 80 Abs. 4 Satz 4 OWiG als zurückgenommen geltenden Rechtsbeschwerde zu tragen.

Der Senat merkt Folgendes an:

In Verfahren wie dem vorliegenden, in denen die verhängte Geldbuße nicht mehr als 100 Euro beträgt, richten sich die Voraussetzungen für die Zulassung der Rechtsbeschwerde nach §§ 80 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 OWiG. Danach ist ein Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde nur zulässig, wenn der Zulassungsgrund der Fortbildung des materiellen Rechts nach § 80 Abs. 2 Nr. 1 OWiG oder der der Verletzung rechtlichen Gehörs nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG geltend gemacht wird.

Der Zulassungsantrag war zu verwerfen, weil kein Zulassungsgrund vorliegt.

1.

Die Betroffene macht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend.

Eine Versagung rechtlichen Gehörs im Sinne des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG ist nach den für die Auslegung des Art. 103 Abs. 1 GG maßgebenden Grundsätzen zu bestimmen (vgl. nur Seitz/Bauer in Göhler, OWiG 18. Aufl., § 80 Rn. 16a m.w.N.). Der Anspruch ist insbesondere verletzt, wenn ein Gericht in entscheidungserheblicher Weise Tatsachen und Beweisergebnisse zum Nachteil eines Beteiligten verwertet hat, zu denen dieser nicht gehört worden ist (vgl. Seitz/Bauer a.a.O. m.w.N.; vgl. auch Maul in KK, StPO 8. Aufl., § 33a Rn. 3). Daneben umfasst der Anspruch das Recht, Kenntnis von Anträgen und Rechtsausführungen anderer Verfahrensbeteiligter zu erhalten, sich hierzu äußern und das eigene Prozessverhalten darauf einstellen zu können (vgl. Graalmann-Scheerer in Löwe-Rosenberg, StPO 27. Aufl., § 33a Rn. 3). Außerdem verpflichtet Art. 103 Abs. 1 GG das Gericht, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Februar 2020 – 2 BvR 336/19 –, juris m.w.N.).

Vor diesem Hintergrund kann der Anspruch auf rechtliches Gehör unter anderem dann verletzt sein, wenn dem Betroffenen für eine Äußerung zu verfahrensrelevanten Umständen unzureichende Zeit zur Verfügung stand, wenn das Gericht kurzfristig einen nicht angekündigten Beweis erhoben und verwertet hat, oder wenn ein Beweisantrag nicht beschieden oder unter deutlichem Verstoß gegen § 77 OWiG zurückgewiesen worden ist (vgl. Seitz/Bauer a.a.O. Rn. 16b m.w.N.).

a) Die Betroffene trägt zur Begründung vor, ihr Verteidiger habe mit an den Polizeipräsidenten gerichteten Schreiben vom 9. Februar 2021 beantragt, ihm zum Zwecke der Überprüfung des Rotlichtverstoßes Einsicht in die gesamte Verfahrensakte zu gewähren, insbesondere in die Rohmessdaten und in die Messreihe. Der Antrag sei zu den Akten nachgereicht worden. In der amtsgerichtlichen Hauptverhandlung vom 3. März 2021 habe der Verteidiger den Antrag wortgleich erneut gestellt. Das Amtsgericht habe den Antrag zurückgewiesen. Zuvor habe der Verteidiger bereits unter dem 18. August 2020 bei dem Polizeipräsidenten Akteneinsicht (insbesondere in Eichschein, Zulassungsbescheinigung der PTB, Fotos, Ausbildungsnachweis, Wartungsprotokolle, Bedienungsanleitung) beantragt. Einige dieser Unterlagen seien ihm zugeleitet worden.

b) Eine Auslegung des Antragsvorbringens ergibt zunächst, dass der Verteidiger mit seinem in der Hauptverhandlung gestellten Antrag nicht die Einsichtnahme in die bei Gericht vorhandene Verfahrensakte, sondern in darüberhinausgehende, dem Gericht nicht vorliegende Unterlagen begehrte. Die demnach geltend gemachte Verweigerung des Zugangs zu dem Gericht nicht vorliegenden Daten und Unterlagen zum Zwecke der Überprüfung des Ergebnisses der Rotlichtverstoßes stellt jedoch keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar (vgl. Senat, Beschlüsse vom 20. April 2021 – 3 Ws (B) 84/21 – m.w.N. und 2. April 2019 – 3 Ws (B) 97/19 –, juris; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 2. März 2021 – 2 RB 5/21 –, juris m.w.N.; BayObLG, Beschluss vom 6. April 2020 – 201 ObOWi 291/20 –, juris).

Zwar ist obergerichtlich geklärt, dass der Verteidiger, soweit dies zur Überprüfung des standardisierten Messverfahrens erforderlich ist, grundsätzlich auch in solche Unterlagen Einsicht nehmen kann, die sich nicht bei den Akten befinden (vgl. insoweit grundlegend die sog. Spurenakten-Entscheidung des BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 1983 – 2 BvR 864/81 –, juris; s.a. Senat, Beschlüsse vom 5. November 2020 – 3 Ws (B) 263/20 –, juris, und 2. April 2019 a.a.O. m.w.N.; Thüringer OLG, Beschluss vom 17. März 2021 – 1 OLG 331 Subs 23/20 –, juris). Weiter ist geklärt, dass das Informations- und Einsichtsrecht des Verteidigers daher deutlich weiter gehen kann als die Amtsaufklärung des Gerichts, und dass solch weitreichende Befugnisse dem Verteidiger im Vorfeld der Hauptverhandlung auch und gerade bei standardisierten Messverfahren zustehen (vgl. Senat, Beschlüsse vom 20. April 2021, 5. November 2020 und 2. April 2019, alle a.a.O.).

Obergerichtlich ist aber auch geklärt, dass diese Informations- und Einsichtsrechte nicht aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG abzuleiten sind (vgl. Senat, Beschluss vom 27. April 2018 – 3 Ws (B) 133/18 –, juris; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 2. März 2021 a.a.O.). Der hier einschlägige Grundsatz der „Waffengleichheit“, der dem Betroffenen die Möglichkeit verschafft, sich kritisch mit den durch die Verfolgungsbehörden zusammengetragenen Informationen auseinanderzusetzen, hat seinen Ursprung vielmehr im Recht auf Gewährleistung eines fairen Verfahrens nach Art. 6 EMRK (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 –, juris; Senat, Beschlüsse vom 5. November 2020 a.a.O., 2. April 2019 a.a.O. und 6. August 2018 – 3 Ws (B) 168/18 – juris).

Soweit eine ausdehnende Auslegung oder analoge Anwendung der Regelung des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG befürwortet wird (vgl. dazu Seitz/Bauer a.a.O. § 80 Rn. 16e m.w.N.), teilt der Senat diese Auffassung nicht. Einer erweiternden Auslegung steht bereits der insoweit eindeutige Wortlaut der Vorschrift entgegen. Eine analoge Anwendung der Vorschrift auf andere Rechtsverletzungen ist in Ermangelung einer erkennbaren Regelungslücke nicht eröffnet. Denn der Gesetzgeber hat die Zulassungsgründe in – wie hier – Fällen geringer Bedeutung bewusst auf Fälle der Versagung rechtlichen Gehörs beschränkt. Eine analoge Anwendung auf weitere – auch durch die Verfassung ausgeschlossene – Rechtsverletzungen verbietet sich (vgl. Senat VRS 134, 48; Hadamitzky in KK OWiG, 5. Aufl., § 80 Rn. 40 m.w.N.).

c) Soweit mit dem Zulassungsantrag die Verletzung des rechtlichen Gehörs dadurch gerügt wird, dass das Amtsgericht den Beweisantrag auf Vernehmung des Zeugen Reets gemäß § 77 Abs. 2 OWiG abgelehnt hat, ist der Antrag ebenfalls unzulässig.

Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch die Ablehnung eines Beweisantrages kann nur dann vorliegen, wenn die Ablehnung willkürlich ist, also ohne eine nachvollziehbare, auf das Gesetz zurückführbare Begründung erfolgt und unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und es sich aufdrängt und nicht zweifelhaft erscheint, dass ein Urteil einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht deshalb nicht standhalten würde (vgl. Senat, Beschluss vom 20. November 2018 – 3 Ws (B) 294/18 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 30. Januar 2012 – III-3 RBs 382/11 –, BeckRS 2012, 7615 m.w.N.).

Dass diese – außergewöhnlichen – Voraussetzungen hier vorliegen könnten, zeigt das in der Rechtsmittelschrift geschilderte Verfahrensgeschehen nicht auf. Eine Willkürentscheidung liegt insbesondere nicht schon deshalb vor, weil die Betroffene mit ihrem Beweisantrag nicht durchgedrungen ist. Dem Rügevorbringen ist nicht zu entnehmen, was die als rechtswidrig angegriffene Ablehnung des Antrages über einen Verstoß gegen Verfahrensvorschriften hinaushebt und ihr das besondere Gewicht der Versagung des rechtlichen Gehörs verleihen würde. Dies gilt umso mehr, weil die Ablehnungsentscheidung des Amtsgerichts keinerlei sachfremde Erwägungen erkennen lässt.

2. Der auf die Sachrüge zu beachtende Umstand, dass das Amtsgericht das Urteil nicht mit Entscheidungsgründen versehen hat, obwohl kein Anwendungsfall des § 77b OWiG gegeben ist, führt allein nicht zur Zulassung der Rechtsbeschwerde (BGHSt 42, 187; Senat, Beschluss vom 17. Juli 2020 – 3 Ws (B) 146/20 – , juris; OLG Brandenburg, Beschluss vom 10. November 2020 – (1Z) 53 Ss-OWi 518/20 (303/20) –, juris m.w.N.; OLG Celle, Beschluss vom 2. November 2017 – 3 Ss (OWi) 231/17 –, BeckRS 2017, 131691; OLG Stuttgart, Beschluss vom 3. August 2009 – 5 Ss 1249/09 –, juris).

Dass vorliegend ein mit Gründen versehenes Urteil innerhalb von fünf Wochen zu den Akten zu bringen war, folgt bereits aus der gesetzlichen Regelung gemäß den §§ 46 Abs. 1 OWiG, 267 Abs. 1, 275 Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO und betrifft insoweit keine Rechtsfrage, die entscheidungserheblich, klärungsbedürftig und abstraktionsfähig ist (vgl. z.B. Senat, Beschluss vom 17. September 2020 – 3 Ws (B) 189/20 –, juris).

Die bei nicht vorhandenen Urteilsgründen lediglich nicht auszuschließende Möglichkeit, dass die Zulassung der Rechtsbeschwerde geboten sein kann, ersetzt nicht die Voraussetzungen des § 80 Abs. 1 OWiG (vgl. BGHSt 42, 187; Senat, Beschluss vom 17. Juli 2020 a.a.O. und OLG Brandenburg, Beschluss vom 10. November 2020 a.a.O.). Dies heißt indes nicht, dass das Fehlen von Urteilsgründen im Einzelfall nicht zur Begründetheit des Zulassungsantrages führen kann. Erforderlich ist in einem solchen Fall die Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 80 Abs. 1 OWiG anhand des Bußgeldbescheides, des Zulassungsantrages und sonstigen Umständen, wie zum Beispiel nachgeschobenen Gründen oder dienstlichen Äußerungen (vgl. BGHSt 42, 187; Senat, Beschluss vom 17. Juli 2020 a.a.O. und OLG Brandenburg, Beschluss vom 10. November 2020 a.a.O.). Denn auf die erhobene Sachrüge können die Voraussetzungen zur Zulassung der Rechtsbeschwerde häufig ohne Kenntnis von Urteilsgründen geprüft werden (BGHSt 42, 187). Dies gilt insbesondere bei massenhaft auftretenden Bußgeldverfahren wegen einfacher Verkehrsordnungswidrigkeiten, die in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht keine Schwierigkeiten aufzeigen und bei denen nach den Gesamtumständen ausgeschlossen werden kann, dass die Zulassungsvoraussetzungen nach § 80 OWiG vorliegen (vgl. BGHSt 42, 187; Senat, Beschluss vom 17. Juli 2020 a.a.O. und OLG Brandenburg, Beschluss vom 10. November 2020 a.a.O.). All dies folgt schon daraus, dass es sich bei dem Zulassungsverfahren um ein Vorschaltverfahren handelt (vgl. Hadamitzky a.a.O. § 80 Rn. 5), bei dem ermittelt wird, ob ein Rechtsbeschwerdeverfahren durchzuführen ist (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 10. November 2020 a.a.O.).

Kann jedoch bei tatsächlich und rechtlich schwierigen Ordnungswidrigkeiten ohne Kenntnis der Urteilsgründe nicht ohne weiteres beurteilt werden, ob die Zulässigkeitsvoraussetzungen vorliegen, und können solche Zweifel auch nicht unter Heranziehung der oben genannten Erkenntnismöglichkeiten ausgeräumt werden, so führt in einem solchen Einzelfall das Fehlen von Urteilsgründen zur Begründetheit des Zulassungsantrages (vgl. BGHSt 42, 187; Senat, Beschluss vom 17. Juli 2020 a.a.O. und OLG Brandenburg, Beschluss vom 10. November 2020 a.a.O.).

Konkrete Anhaltspunkte, aus denen sich in dem hier einfach gelagerten Bußgeldverfahren ergeben könnte, dass bei einer ordnungsgemäßen Begründung des Urteils möglicherweise ein Grund für die Zulassung der Rechtsbeschwerde gegeben wäre, sind aus den Gesamtumständen nicht ersichtlich. Wie sich aus dem Urteilstenor, dem Hauptverhandlungsprotokoll, dem Bußgeldbescheid vom 25. September 2020, dem Eichschein und dem Zulassungsantrag ergibt, ist die Betroffene wegen eines am 16. Juli 2020 begangenen fahrlässigen (einfachen) Rotlichtverstoßes, der mittels eines geeichten Gerätes in einem standardisierten Messverfahren festgestellt worden ist, zu einer Geldbuße von 90 Euro verurteilt worden. Dem Bußgeldbescheid ist zu entnehmen, dass die Betroffene durch ein Lichtbild als Fahrzeugführerin identifiziert worden ist. Zweifel an der Betroffenen als Fahrzeugführerin ergeben sich aus den vorliegenden Unterlagen nicht, zumal die Betroffene ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden wurde.

3. Die Betroffene hat die Kosten ihrer nach § 80 Abs. 4 Satz 4 OWiG als zurückgenommen geltenden Rechtsbeschwerde zu tragen (§§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 1 Satz 1 StPO).

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