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Akteneinsicht in Messunterlagen – Einsicht in Räumen der Dienststelle

Einsicht in Messunterlagen: Ein Wendepunkt im Bußgeldverfahren

Eintauchen wir in einen Fall, der einen markanten Wendepunkt im deutschen Bußgeldverfahren darstellt und mit der Praxis der Akteneinsicht in Messunterlagen in Verbindung steht. In der Mitte des Geschehens befindet sich ein Betroffener, gegen den ein Bußgeldbescheid wegen Geschwindigkeitsüberschreitung erlassen wurde. Der Fahrer soll innerhalb einer geschlossenen Ortschaft um 22 km/h schneller als erlaubt gefahren sein und wurde dafür mit einem Bußgeld belegt. Aber der Fall ist bei weitem nicht so einfach, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag. Der Fahrer hat Einspruch eingelegt und einen Sachverständigen engagiert, um die Korrektheit der Geschwindigkeitsmessung zu überprüfen. Dieser braucht dazu jedoch Zugang zu weiteren Unterlagen, die für die Erstellung eines aussagekräftigen Gutachtens notwendig sind. Dies führt uns zu dem zentralen Problem dieses Falls – der Akteneinsicht in die Messunterlagen.

Direkt zum Urteil Az: 1 ORbs 35 Ss 72/23 springen.

Ein Einspruch, der zu einem Wendepunkt führt

Das Amtsgericht Rastatt erließ zunächst einen Bußgeldbescheid gegen den Betroffenen. Dieser legte jedoch fristgemäß Einspruch ein und verlangte gleichzeitig Einsicht in die Akten. Nach Erhalt der Akten beauftragte er einen Sachverständigen von der DEKRA Düsseldorf, um ein Gutachten zur Ordnungsgemäßheit der Messung zu erstellen. Für eine vollständige Begutachtung forderte der Sachverständige weitere Unterlagen an, darunter eine CD mit den Originalmessdaten, einen Schulungsnachweis des Auswertepersonals und die „Lebensakte“ des Messgeräts.

Der Grundsatz des fairen Verfahrens

Hier stießen wir auf das grundlegende Problem dieses Falls – die Notwendigkeit der vollständigen Akteneinsicht zur Wahrung des Grundsatzes des fairen Verfahrens. Trotz mehrerer Anfragen des Sachverständigen, die für das Gutachten notwendigen Unterlagen zu übermitteln, wurde dieser Bitte nicht nachgekommen. Dies führte dazu, dass der Verteidiger des Betroffenen sich auf den Grundsatz des fairen Verfahrens und entsprechende obergerichtliche Entscheidungen berief, um die Herausgabe der geforderten Unterlagen zu erreichen.

Das überraschende Urteil des OLG Karlsruhe

Daraufhin hat das Oberlandesgericht Karlsruhe eine Entscheidung getroffen, die das ursprüngliche Urteil des Amtsgerichts Rastatt aufhob und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwies. Das Gericht betonte, dass auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde neu entschieden werden muss. Dieses Urteil könnte als Präzedenzfall dienen und die Praxis der Akteneinsicht in Bußgeldverfahren grundlegend beeinflussen.


Das vorliegende Urteil

OLG Karlsruhe – Az.: 1 ORbs 35 Ss 72/23 – Beschluss vom 29.03.2023

In dem Bußgeldverfahren wegen Verkehrsordnungswidrigkeit hat das Oberlandesgericht Karlsruhe – 1. Senat für Bußgeldsachen – durch die unterzeichnenden Richter am 29. März 2023 beschlossen:

1. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Rastatt vom 15. November 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Rastatt zurückverwiesen.

Gründe

Die Stadt Rastatt setzte mit Bußgeldbescheid vom 31.01.2022 gegen den Betroffenen wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 22 km/h bei einer zulässigen Geschwindigkeit von 30 km/h, die dieser am 14.12.2021 um 21:52 Uhr in 76437 Rastatt in der Bahnhofstraße als Führer des PKW RA-SK 7373 begangen haben soll, ein Bußgeld in Höhe von 115.- Euro fest. Hiergegen legte der Betroffene nach erfolgter Zustellung am 04.02.2022 mit Telefax vom 07.02.2022, welches am 08.02.2022 beim Amtsgericht einging, Einspruch ein und beantragte zugleich Akteneinsicht. Mit Schreiben der Bußgeldbehörde vom 08.02.2022 übermittelte ihm diese die erbetenen Akten in Kopie zur Einsicht und zum Behalt. Auf den entsprechenden Antrag im Schriftsatz seines Verteidigers vom 14.03.2022, erhielt dieser mit Verfügung der Bußgeldbehörde vom 25.03.2022 ebenfalls Akteneinsicht. Mit Schriftsatz vom 03.06.2022 teilte ein Sachverständige der DEKRA Düsseldorf der Bußgeldbehörde der Stadt Rastatt mit, dass er vom Verteidiger des Betroffenen privat beauftragt worden sei, ein schriftliches Sachverständigengutachten zur Ordnungsgemäßheit der Messung zu erstellen. Zur Gutachtenerstellung benötige er weitere Unterlagen (eine CD mit den Messdateien der gesamten Messreihe im Originalformat nebst Öffnungsschlüssel, Schulungsnachweis des Auswertepersonals und „Lebensakte“ des Messgeräts), um deren Übersendung er bitte. Nach Eingang der Akten beim Amtsgericht am 06.07.2022 und der mit Verfügung vom 14.07.2022 erfolgten Terminierung der Hauptverhandlung auf den 20.09.2022 teilte der Verteidiger dem Amtsgericht mit Schriftsatz vom 19.07.2022 – unter Berufung auf den Grundsatz des fairen Verfahrens und die dazu ergangen obergerichtlichen Entscheidungen – mit, dass trotz mehrfacher Aufforderungen durch den be-auftragen Sachverständigen, die ergänzend zur Gutachtenerstattung angeforderten Unterlagen (CD mit den Messdateien der gesamten Messreihe im Originalformat nebst Öffnungsschlüssel, Schulungsnachweis des Auswertepersonals und „Lebensakte“ des Messgeräts) nicht herausgegeben worden seien. Es werde nun gegenüber dem angerufenen Gericht beantragt, die Bußgeldstelle zu verpflichten, die von der Verteidigung auf Antrag des Sachverständigen vom 03.06.2022 begehrten Daten und Unterlagen beizuziehen und diese der Verteidigung im Wege der ergänzen-den Akteneinsicht zur Verfügung zu stellen. Mit Verfügung vom 26.07.2022 forderte das Amtsgericht die Bußgeldbehörde der Stadt Rastatt u.a. auf, dem Verteidiger bzw. dem von diesem beauftragen Sachverständigen der DEKRA Düsseldorf die Falldatei bezgl. der verfahrensgegenständlichen Messung digital zu übermitteln. Außerdem werde gebeten, dem Verteidiger bzw. dem von diesem beauftragen Sachverständigen nach Terminvereinbarung in den Diensträumen der Bußgeldbehörde Einsicht in die gesamte Messreihe zu gewähren.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 26.08.2022 bestätigt dieser den Eingang weiterer Unterlagen, weist jedoch darauf hin, dass die mehrfach ergänzend durch den Sachverständigen und den Verteidiger angeforderte CD (mit den Messdateien der gesamten Messreihe im Originalformat nebst Öffnungsschlüssel) nach wie vor fehle. Es werde gegenüber dem Gericht — erneut — beantragt, die Bußgeldstelle zu verpflichten, die von der Verteidigung auf Antrag des Sachverständigen vom 03.06.2022 und 26.08.2022 begehrten Daten beizuziehen und diese der Verteidigung, hilfsweise direkt dem Sachverständigen, im Wege der ergänzenden Akteneinsicht zur Verfügung zu stellen. Zudem werde beantragt, das Verfahren auszusetzen, bis die genannten Unterlagen und Dateien zur Verfügung gestellt werden.

Mit Verfügung vom 31.08.2022 teilte das Amtsgericht dem Verteidiger hierauf mit, dass die Bußgeldbehörde mit selber Verfügung erneut angewiesen worden sei, dem Verteidiger (bzw. dem beauftragen Sachverständigen) die Falldatei digital zu übermitteln bzw. dem beauftragen Sachverständigen Einsicht in die gesamte Messreihe nach Terminvereinbarung in den Diensträumen der Bußgeldbehörde zu gewähren. Abschließend weist das Amtsgerichts darauf hin, dass nach seiner Auffassung kein Anspruch auf (digitale) Übermittlung der vollständigen Messreihe bestehe. Es sei der Verteidigung bzw. dem beauftragen Sachverständigen zumutbar, sich Einsicht in den Diensträumen der Behörde zu verschaffen. Die Seitens des Sachverständigen übermittelte DVD werde zurückgeleitet. Eine Aussetzung des Verfahrens sei derzeit nicht angezeigt. Auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren gelte der Beschleunigungsgrundsatz.

Mit Schriftsatz vom 12.09.2022 übermittelte der Verteidiger dem Amtsgericht das außergerichtlich eingeholte Sachverständigengutachten der DEKRA vom 30.08.2022, indem u.a. auf Seite 10 darauf hingewiesen ist, dass die Überprüfung einer Änderung der Kameraperspektive während der Messung nicht vorgenommen habe werden können, da dafür das erste und letzte Messfoto der Messreihe einer Kamera benötigt werde, welches vorliegend nicht zur Verfügung gestellt worden sei. Hinsichtlich der weiter fehlenden Einsicht in die gesamte Messreihe werde Beschwerde gegen die ablehnende Entscheidung des Amtsgerichts vom 31.08.2022 eingelegt und die Aussetzung des Verfahrens bis zur vollständigen Akteneinsicht beantragt. Zur Begründung wird auf die obergerichtliche Rechtsprechung (u.a. den Beschluss des Senats vom 16.07.2019 — 1 Rb 10 Ss 291/19 -, juris) Bezug genommen.

Mit Verfügung vom 14.09.2022 fragte das Amtsgericht – unter Wiederholung der im Schreiben vom 31.08.2022 vertretenen Auffassung – um umgehende Mitteilung an, ob die Beschwerde zu-rückgenommen werde. Der Hauptverhandlungstermin bleibe aufrechterhalten.

Mit Fax vom 14.09.2022 teilte der Verteidiger mit, dass die Beschwerde nicht zurückgenommen werde und sich gegen den Verweis auf die Diensträume der Bußgeldbehörde richte. Unter Bezug auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Akteneinsichtsrecht (BVerfG, Beschluss vom 12.11.2020, 2 BvR 1616/18 mwN) wies der Verteidiger darauf hin, dass die Mitwirkungsobliegenheiten des Betroffenen überspannt würden.

Mit Verfügung vom 15.09.2022 teilte das Amtsgericht dem Verteidiger mit, dass die nunmehr auf den Verweis auf die Diensträume zur Einsicht in die gesamte Messreihe konkretisierte Beschwerde aus Sicht des Gerichts nicht zulässig sei. Das Anliegen auf Herausgabe der gesamten Messreihe betreffe eine Frage des fairen Verfahrens und gehe daher der Urteilsfindung voraus. Die Herausgabe der gesamten Messreihe sei in der Rechtsprechung umstritten, vorliegend werde sie nicht abgelehnt, sondern nur deren digitale Überlassung, was aus Datenschutzgründen zu befürworten sei. Eine Einsicht in den Diensträumen sei zumutbar, zudem könne ein ortsnaher Verteidiger bzw. Sachverständiger in Untervollmacht beauftragt werden, wenn die Anreise unzumutbar erscheine. Das Amtsgericht fragte nochmals an, ob die Beschwerde zurückgenommen werde. Um ein faires Verfahren zu gewährleisten und nochmals Gelegenheit zu geben, die Mess-reihe einzusehen, werde der Hauptverhandlungstermin auf den 18.10.2022 verlegt. Mit Schriftsatz vom 15.09.2022 teilte der Verteidiger hierauf kurz mit, dass die Beschwerde gegen die Nichtherausgabe der Messreihe an den Sachverständigen oder die Verteidigung nicht zurückgenommen werde.

Mit Beschluss vom 16.09.2022 half das Amtsgericht Rastatt der Beschwerde nicht ab. Zur Be-gründung wird darauf verwiesen, dass nach Auffassung des Gerichts eine Einsicht in die gesamte Messreihe in den Diensträumen der Behörde zumutbar sei, zudem könne ein ortsnaher Verteidiger bzw. Sachverständiger beauftragt werden. Nachdem die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 26.09.2022 beantragt hatte, die Beschwerde nach § 305 StPO als unzulässig, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen, hat das Landgericht Baden-Baden mit Beschluss vom 28.09.2022 die Beschwerde des Betroffenen kostenpflichtig als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt, dass die zulässige Beschwerde (vgl. LG Kaiserslautern, Beschluss vom 22.05.2019 — 5 Qs 51/19) unbegründet sei. Zur Begründung wird insoweit darauf verwiesen, dass die Kammer zwar der Rechtsprechung des OLG Karlsruhe (Beschluss vom 16.07.2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19 -, nach juris = NStZ 2019, 620) folge, wonach auf dem Gebot des fairen Verfahrens das Recht des Betroffenen gründe, dass die Verwaltungsbehörde seinem Verteidiger oder einem von ihm beauftragten Sachverständigen nicht bei den Akten befindliche amtliche Messunterlagen zur Verfügung stellt, die erforderlich sind, um die „Parität des Wissens“ herzustellen und die dem Betroffenen ermöglicht, die Berechtigung des auf das Ergebnis eines Standard den Messverfahrens gestützten Tatvorwurfs mithilfe eines Sachverständigen zu überprüfen. Dieses Recht erstrecke sich nach der zitierten Entscheidung des OLG Karlsruhe auch auf die Falldatensätze der jeweils tatgegenständlichen Messreihe. Indessen folge hieraus kein Recht auf (digitale) Übermittlung dieser Datensätze. Nach der Rechtsprechung der Kammer (Beschluss vom 06.12.2019 – 2 Qs 107/19) gebiete das Schutzinteresse der von der betreffenden Messreihe erfassten anderen Verkehrsteilnehmer vielmehr, die Daten der Verteidigung oder einem von dieser beauftragten Sachverständigen nur im Wege der Einsichtnahme bei der Behörde zugänglich zu machen. Auch der Beschluss des BVerfG vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 – führe nicht zu einer anderen Entscheidung, da das BVerfG eine generell-abstrakte Festlegung der Modalitäten der Gewährung des Informationszugangs ausdrücklich nicht vorgenommen und zudem darauf hingewiesen habe, dass gewichtige verfassungsrechtlich verbürgte Interessen, beispielsweise schützenswerte Interessen Dritter, der Gewährung des Informationszugangs widerstreiten könnten.

In der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Rastatt am 18.10.2022 widersprach der Verteidiger der Verwertung des Messergebnisses und beantragte Aussetzung des Verfahrens wegen Unzumutbarkeit der Einsicht in den Diensträumen der Behörde vor Ort. Diesen Antrag lehnte das Amtsgericht mit der Begründung ab, auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren gelte der Beschleunigungsgrundsatz. Im Übrigen werde auf den Beschluss vom 16.09.2022 und den Beschluss des Landgerichts Baden-Baden vom 28.09.2022 Bezug genommen. Nach Auffassung des Amtsgerichts sei eine Einsichtnahme in die Messreihe vor Ort zumutbar. Im Hinblick auf den erst heute vorgelegten Eichschein wurde Fortsetzungstermin bestimmt. Im Termin am 15.11.2022 wurde u.a. der (erstmals in der Ladung erteilte) rechtlicher Hinweis wiederholt, dass angesichts der Vor-eintragungen im Fahreignungsregister eine höhere Geldbuße als im Bußgeldbescheid in Betracht komme.

Mit Urteil vom 15.11.2022 verurteilte das Amtsgericht den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 22 km/h zu einer Geldbuße von 200,00 €.

Mit dem frist- und formgerecht gestellten und begründeten Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde macht der Betroffene u.a. eine Verletzung des Recht auf ein faires Verfahren geltend, weil die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluss des Gerichts unzulässig beschränkt worden sei. Die nicht gewährte Einsichtsmöglichkeit in die nicht bei den Akten befindliche gesamte Messreihe des Messtages an dem fraglichen Messort durch das Amtsgericht sei basierend auf der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Recht auf ein faires Verfahren nicht vereinbar. Das Amtsgericht habe zu Unrecht durch Beschluss den Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung und Verpflichtung der Verwaltungsbehörde zur Verfügungsstellung der Daten der gesamten Messreihe, die der Betroffene für die Prüfung des Tatvorwurfs benötige – mittels Übersendung (auf einem Datenträger) an die Verteidigung oder den Sachverständigen – durch Beschluss in der Hauptverhandlung zurückgewiesen und damit die Verteidigung unzulässig gern. § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO beschränkt. Unter Zitat der Entscheidung des Oberlandesgericht Stuttgart vom 03.08.2021 — 4 Rb 12 Ss 1094/20 = NStZ-RR 2022, 60) wird u.a. vorgetragen, dass sich das Zugangsrecht nicht lediglich auf Einsicht in die Unterlagen in den Räumen der Dienststelle des Messbeamten erstrecke, sondern ein Anspruch auf Informationszugang durch Kopie der entsprechenden Daten auf einen von dem Betroffenen bzw. seiner Verteidigung zur Verfügung gestellten Datenträger bestehe. Der Betroffene habe frühzeitig insoweit ergänzende Akteneinsicht schon bei der Bußgeldbehörde und sodann auch einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 63 Abs. 1 OWiG gestellt. Datenschutzbedenken könne durch eine Anonymisierung der Daten Rechnung getragen werden, außerdem würden die übermittelten Daten nur an den Verteidiger als Organ der Rechtspflege und den von ihm beauftragen Sachverständigen herausgegeben, weshalb zu erwarten sei, dass diese die Daten nicht an Dritte herausgeben würden. Bei dieser Verfahrensweise müsse das Interesse der in den Falldateien der Messreihe erfassten weiteren Verkehrsteilnehmer gegenüber dem aus dem fair-trial-Anspruch begründeten Einsichtsrecht zurückstehen.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Schrift vom 02.02.2023 beantragt, den Antrag des Betroffenen gemäß § 80 Abs. 4 OWiG als unbegründet zu verwerfen. Zur Begründung wird u.a. ausgeführt, dass die Rüge der Verletzung des fairen Verfahrens die Zulassung nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG nicht begründe, da nach dem maßgeblichen Wortlaut der Norm allein das rechtliche Gehör gerügt werden könne, welches vorliegend nicht verletzt sei.

Hierzu hat die Verteidigung am 24.02.2023 eine Gegenerklärung abgegeben, in der sie an ihrem Antrag festhält und weiter dazu ausführt.

Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die genannten Schriftsätze und Beschlüsse Bezug genommen.

Die originär zuständige Einzelrichterin hat die Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung wegen der Verletzung elementarer Verfahrensgrundsätze nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG zugelassen und die Sache mit Beschluss vom 28.03.2023 auf den Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen (§ 80a Abs. 1 und 3 OWiG).

II.

Die nach § 79 Abs. 1 S. 2 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde hat – zumindest vorläufig – Erfolg.

1. Das angefochtene Urteil unterliegt der Aufhebung, weil es unter Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) auf verfahrensfehlerhafter Grundlage ergangen ist, was der Betroffene formgerecht gerügt hat.

Das Amtsgericht hat zu Unrecht den Antrag des Betroffenen auf Aussetzung der Hauptverhandlung zum Erhalt der nicht bei den Akten befindlichen amtlichen Messunterlagen, die er für die sachverständige Prüfung des Tatvorwurfs benötige und welche von ihm schon frühzeitig vor der Hauptverhandlung wiederholt gegenüber der Verwaltungsbehörde und dem Gericht begeht worden waren, durch Beschluss in der Hauptverhandlung unter Berufung auf das Beschleunigungsprinzip und den Verweis auf die eingeräumte Möglichkeit der Einsicht in die Messunterlagen in den Räumen der Dienststelle der Bußgeldbehörde – zurückgewiesen und damit die Verteidigung unzulässig gern. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO beschränkt, wobei der Senat nicht ausschließen kann, dass das Urteil auf diesem Rechtsfehler beruht oder beruhen kann (KK-StPO/Gericke, 8. Aufl. 2019, StPO § 338 Rn. 101 mwN).

Der vorliegend in Frage stehende Anspruch des Betroffenen auf Informationszugang bei der Bußgeldbehörde ist sachlich unter anderem davon abhängig, dass den begehrten Informationen durch den Betroffenen verständiger Weise Relevanz für seine Verteidigung beigemessen werden kann (BVerfG, NJW 2021, 455; BGH DAR 2022, 350). Dabei ist es Aufgabe der mit den Verfahren befassten Bußgeldgerichte, im Einzelfall zu beurteilen, ob das Gesuch diesen Anforderungen entspricht. Diesen Anforderungen wird die Begründung des Amtsgerichts, auch unter Berücksichtigung der ergänzenden Berufung auf die Entscheidung des Landgerichts Baden-Baden, nicht gerecht. Das Amtsgericht hat die Relevanz der begehrten Informationen in keiner Weise in seine Überlegungen einbezogen, sondern die Ablehnung maßgeblich mit dem Beschleunigungsgrundsatz begründet. Dies würde im Ergebnis dazu führen, dass jedweder Informationsanspruch – obwohl frühzeitig im Verwaltungsverfahren geltend gemacht und mit Antrag nach § 62 OWiG verfolgt – in der Hauptverhandlung unter Verweis auf den Beschleunigungsgrundsatz pauschal zunichte gemacht werden könnte. Vorliegend kommt hinzu, dass der Betroffene über seinen Verteidiger zur Relevanz der begehrten Informationen vorgetragen hat, als mit Schriftsatz vom 12.09.2022 zur Begründung des vor der Hauptverhandlung geltend gemachten Informationsanspruchs das außergerichtlich eingeholte Sachverständigengutachten der DEKRA vom 30.08.2022 vorgelegt wurde. In diesem ist u.a. auf Seite 10 darauf hingewiesen, dass die Überprüfung einer Änderung der Kameraperspektive während der Messung nicht habe vorgenommen werden können, da dafür das erste und letzte Messfoto der Messreihe einer Kamera benötigt werde, welches vorliegend von der Verwaltungsbehörde – trotz frühzeitiger und wiederholter Anfragen – nicht zur Verfügung gestellt worden sei. Mit der Frage, ob hiermit die Relevanz der begehrten Informationen im vorliegenden Einzelfall hinreichend vorgetragen war, hätte sich das Amtsgericht bei Ablehnung des Aussetzungsantrages, ggf. unter sachverständiger Beratung, auseinandersetzen müssen. Dies hat das Amtsgericht in verfahrensfehlerhafter Weise unterlassen und dadurch das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren verletzt.

Dem steht nicht entgegen, dass es dem Verteidiger bzw. dem beauftragten Sachverständigen, worauf das Amtsgericht diesen hingewiesen hat, vor der Hauptverhandlung möglich war, die begehrte Einsicht in die gesamten Messunterlagen (d.h. die gesamte Messreihe des Messtages an dem fraglichen Messort) in den Räumen der Bußgeldbehörde zu erhalten.

Das Zugangsrecht erstreckt sich nicht lediglich auf Einsicht in die Unterlagen in den Räumen der Dienststelle des Messbeamten. Eine Reise dorthin nur zu dem Zweck, die gesamte Messreihe einzusehen, kann dem ortsfremden Verteidiger des Betroffenen, bzw. dem von diesem beauftrag-ten Sachverständigen (vorliegend aus dem über 350 km und über vier Fahrstunden entfernten Düsseldorf), nicht zugemutet werden, da deren Anreise mit Mühen und Kosten verbunden ist, die außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache stehen (OLG Stuttgart, Beschluss vom 03.08.2021- 4 Rb 12 Ss 1094/20 —, juris unter Verweis auf BayObLG, NJW 1991, 1070 ff zur Einsichtnahme einer polizeilichen Videoaufzeichnung). Ein diesbezüglicher Informationszugang kann vielmehr von der Bußgeldbehörde z. B. durch Kopie der entsprechenden Daten auf einen von dem Betroffenen bzw. seiner Verteidigung zur Verfügung gestellten Datenträger – ohne größeren Aufwand zu ver-ursachen – ermöglicht werden (OLG Stuttgart, aaO).

Dem stehen, entgegen den Ausführungen des Landgerichts Baden-Baden, auch Datenschutz-gründe (insbesondere das Schutzinteresse der von der betreffenden Messreihe erfassten anderen Verkehrsteilnehmer) nicht entgegen (vgl. hierzu schon Senat Beschluss vom 16.07.2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19 juris; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 17.03.2021 — 1 OLG 331 SsBs 23/20 —, juris und OLG Stuttgart aaO, jeweils mwN). Solchen Bedenken kann zum einen durch eine Anonymisierung der Daten durch die Bußgeldbehörde Rechnung getragen werden. Zum anderen werden diese Messdaten lediglich an den Verteidiger als Organ der Rechtspflege sowie einen von diesem beauftragten Sachverständigen herausgegeben und damit datenschutz-rechtliche Bedenken weiter verringert, da zu erwarten ist, dass die diesen übermittelten Daten nicht an Dritte weitergegeben werden (OLG Stuttgart aaO). Daher muss bei dieser Verfahrensweise das Interesse der in den Falldateien der Messreihe erfassten weiteren Verkehrsteilnehmer gegenüber dem aus dem fair-trial-Anspruch begründeten Einsichtsrecht des Betroffenen zurückstehen (vgl. zum Ganzen auch BVerfG, Beschluss vom 12.1.1983 – 2 BvR 864/81 -, juris; Senat, Beschluss vom 16.07.2019 — 1 Rb 10 Ss 291/19 —, juris; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 17.3.2021 – 1 OLG 331 SsBs 23/20, juris). Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass lediglich Foto und Kennzeichen, nicht aber die Fahrer- oder Halteranschrift der anderen Verkehrsteilnehmer übermittelt werden (OLG Stuttgart, aaO). Im Übrigen ist nicht ersichtlich, weshalb die Daten der von der betreffenden Messreihe erfassten anderen Verkehrsteilnehmer bei einer Einsicht ihrer Daten nur in der Bußgeldbehörde erheblich besser geschützt wären. Auch in diesem Fall wäre es dem Sachverständigen ggf. gestattet, sich Kopien der Messdaten zu machen.

Zwar kann ein Betroffener mit der Rüge unzulässiger Informationsbeschränkung im gerichtlichen Verfahren nur durchdringen, sofern er den Zugang zu nicht zur Akte genommener Unterlagen schon frühzeitig im Bußgeldverfahren beantragt und im Verfahren nach § 62 Abs. 1 OWiG weiterverfolgt hat (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, Rn. 60 und 66, juris; Senat, aaO Rn. 30; OLG Stuttgart, aaO, Rn. 14 mwN), dies ist vorliegend durch den Betroffenen und seinen Verteidiger jedoch geschehen.

Wegen des dargelegten Verfahrensfehlers ist das angefochtene Urteil mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Prüfung und Entscheidung an das Amts-gericht zurückzuverweisen.

2. Eine Vorlage an den BGH gemäß § 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG, § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG ist nicht veranlasst, da der Senat – soweit ersichtlich – in Bezug auf die Rechtsfrage nicht von der Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts oder des BGH abweicht (vgl. BGH, Beschluss vom 30.03.2022 – 4 StR 181/21 -, juris = DAR 2022, 350; Thüringer Oberlandesgericht aaO; OLG Stuttgart aaO).

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