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Absehen von Fahrverbot – dringendes Bedürfnis zur Verrichtung einer Notdurft

Das Oberlandesgericht Hamm hat entschieden, dass in Notfällen wie dringendem Harndrang auf der Autobahn ein Fahrverbot nicht zwingend ist. Ein subjektiv nicht vorwerfbares Verhalten und eine notstandsähnliche Situation können zu einer Absehen von einem Fahrverbot führen.

→ Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 5 ORbs 35/24

✔ Das Wichtigste in Kürze

  • Bei notstandsähnlichen Situationen wie einem dringenden Bedürfnis zur Verrichtung einer Notdurft kann das Handlungsunrecht für ein Fahrverbot entfallen.
  • Die Umstände des Einzelfalls sind stets sorgfältig gegeneinander abzuwägen, auch unter Berücksichtigung etwaiger Irrtumsaspekte.
  • Ein Fahrverbot ist nicht angezeigt, wenn der Betroffene subjektiv nicht besonders verantwortungslos handelte.
  • Ein zwischenzeitlich wieder freigegebener Verkehr mindert den objektiven Erfolgsunwert der Pflichtverletzung.
  • Die medikamentenbedingte Notlage des Betroffenen sowie dessen irrige Annahme der Verkehrsfreigabe stellten keine besonders vorwerfbaren Umstände dar.
  • Das Betreten der Autobahn zur Notdurftverrichtung wäre für den Betroffenen nicht zumutbar gewesen.
  • Das Absehen vom Fahrverbot bei einer Katalogtat der BKatV ist im begründeten Einzelfall möglich.
  • Der Begründungsaufwand der Gerichte für Fahrverbote bei Katalogverstößen ist lediglich eingeschränkt.

Notdurft auf der Autobahn: Kein Fahrverbot bei besonderen Umständen

Pinkelpause Fahrverbot?
(Symbolfoto: ArtOfPhotos /Shutterstock.com)

Häufig stellen Verkehrsverstöße eine große Herausforderung für Autofahrer dar. Neben empfindlichen Geldstrafen drohen in schwerwiegenden Fällen auch Fahrverbote. Eine Sonderregelung gibt es jedoch in Situationen, in denen Autofahrer aufgrund einer dringenden persönlichen Notwendigkeit gezwungen waren, die Verkehrsregeln ausnahmsweise zu missachten. In solchen notstandsähnlichen Lagen kann das Gericht von einem Fahrverbot absehen, sofern der Verstoß nicht in besonders grober Weise erfolgte. Die Gerichte müssen dabei stets sorgfältig die Umstände des Einzelfalls berücksichtigen. Im Folgenden soll ein konkreter Gerichtsbeschluss zu diesem Thema näher beleuchtet werden.

Der Fall vor dem Oberlandesgericht Hamm im Detail

Absehen von Fahrverbot wegen Notdurft

In einem aktuellen Fall des Oberlandesgerichts Hamm musste entschieden werden, ob ein Fahrverbot wegen der missbräuchlichen Nutzung einer Rettungsgasse rechtmäßig ist. Der Betroffene war auf der Autobahn in einen Stau geraten, wobei er aufgrund seiner Medikamente einen dringenden Harndrang verspürte. In der Annahme, der Verkehr sei wieder freigegeben, nutzte er die Rettungsgasse, um schneller zur nächsten Toilette zu gelangen. Doch es kam anders, denn er wurde dabei von der Polizei erwischt und mit einem Bußgeld belegt. Das Amtsgericht sah von einem Fahrverbot ab, wogegen die Staatsanwaltschaft mit einer Rechtsbeschwerde vorging.

Amtsgerichtliches Urteil und Widerspruch der Staatsanwaltschaft

Das Amtsgericht Witten hatte den Betroffenen wegen der fahrlässigen unberechtigten Nutzung einer Rettungsgasse zu einer Geldbuße verurteilt, aber gleichzeitig von einem Fahrverbot abgesehen. Die Staatsanwaltschaft argumentierte, dass ein Fahrverbot in dieser Situation zwingend notwendig sei, da die Tat als grobe Pflichtverletzung des Betroffenen anzusehen sei. Das Amtsgericht begründete das Absehen von einem Fahrverbot mit der notstandsähnlichen Situation des Betroffenen. Diese Argumentation wollte die Staatsanwaltschaft nicht gelten lassen.

Abwägung der Umstände des Einzelfalls

Das Oberlandesgericht Hamm bestätigte nun die Entscheidung des Amtsgerichts. Es führte aus, dass bei der Beurteilung einer groben Pflichtverletzung verschiedene Aspekte des Einzelfalls zu berücksichtigen seien. Dazu gehören auch Irrtumsaspekte sowie das Vorliegen einer notstandsähnlichen Situation. Im vorliegenden Fall befand sich der Betroffene in einer solchen Situation, da er aufgrund seiner Medikamente unter einem erhöhten Harndrang litt und diesen aufgrund des unvorhergesehenen Staus nicht rechtzeitig befriedigen konnte.

Kein Notstand, aber vergleichbares Dilemma

Die Richter wiesen darauf hin, dass die Situation zwar keinen rechtlichen Notstand gemäß § 16 OWiG darstellte. Jedoch sei die Situation vergleichbar mit einem rechtfertigenden Notstand, bei dem ein Fahrverbot ausnahmsweise unangemessen sei. Die Richter des Oberlandesgerichts führten aus, dass die Handlung des Betroffenen aus subjektiver Sicht nicht besonders vorwerfbar sei. Er habe sich aufgrund der wieder anlaufenden Fahrzeugen in der irrigen Annahme befunden, dass die Rettungsgasse wieder befahren werden dürfe. Außerdem sei ihm ein Verlassen des Fahrzeugs zur Notdurftverrichtung nicht zumutbar gewesen, da dies selbst als Ordnungswidrigkeit gewertet würde und mit einer Eigengefährdung verbunden wäre.

✔ FAQ zum Thema: Absehen von Fahrverbot


Was versteht man unter einem Fahrverbot und in welchen Fällen kann davon abgesehen werden?

Ein Fahrverbot ist in Deutschland eine Nebenstrafe, die neben einer Geld- oder Freiheitsstrafe verhängt werden kann. Es beinhaltet das Verbot, für einen Zeitraum von einem bis drei Monaten ein Kraftfahrzeug zu führen.

Jährlich werden in Deutschland bis zu 500.000 temporäre Fahrverbote verhängt. Ein einmonatiges Fahrverbot wird beispielsweise außerorts bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 41 bis 50 km/h verhängt, ein zweimonatiges ab 51 km/h.

Von einem Fahrverbot kann nur in Ausnahmefällen abgesehen werden, wenn ganz außergewöhnliche Härten vorliegen oder sonstige außergewöhnliche Umstände dies rechtfertigen. In der Rechtsprechung haben sich dafür verschiedene Fallgruppen herausgebildet:

  • Das sogenannte Augenblicksversagen, wenn dem Betroffenen nicht widerlegt werden kann, dass er ein Verkehrszeichen übersehen oder eine Ampel verwechselt hat.
  • Eine Existenzgefährdung bei Selbstständigen oder der drohende Verlust des Arbeitsplatzes bei abhängig Beschäftigten.
  • Ein extrem langer Zeitablauf zwischen Vorfall und Urteil.
  • Besondere persönliche Umstände oder Umstände bei der Tatbegehung, wie ein geringes Verkehrsaufkommen zur Nachtzeit ohne Fremdgefährdung.

Wird ausnahmsweise von einem Fahrverbot abgesehen, soll das Bußgeld angemessen erhöht werden. Der Richter muss die Ausnahmeentscheidung besonders begründen.


Wie wird eine „notstandsähnliche Situation“ im Verkehrsrecht bewertet?

Eine notstandsähnliche Situation kann im Verkehrsrecht in Ausnahmefällen dazu führen, dass von der Verhängung eines Fahrverbots abgesehen wird. Die Rechtsprechung stellt dafür jedoch hohe Anforderungen an den Betroffenen, um nachzuweisen, dass die Voraussetzungen im konkreten Fall vorliegen.

Grundsätzlich gilt: Wird eine Verkehrsübertretung grob pflichtwidrig begangen, drohen neben einer Geldbuße und Punkten auch ein Fahrverbot von 1-3 Monaten. Nur in eng begrenzten Ausnahmefällen dürfen Gerichte davon absehen.

Als notstandsähnliche Situation anerkannt ist insbesondere ein dringendes Bedürfnis zur Verrichtung der Notdurft. Der Betroffene muss darlegen, dass er subjektiv nicht besonders verantwortungslos handelte und nach den Umständen des Einzelfalls keine andere Möglichkeit hatte, rechtzeitig eine Toilette zu finden. Eine bloße Notdurft reicht dafür nicht aus, es müssen zusätzliche Umstände hinzukommen.

Weitere Fallgruppen für ein ausnahmsweises Absehen sind u.a. ein sogenanntes Augenblicksversagen, eine drohende Existenzgefährdung oder der Verlust des Arbeitsplatzes, ein extrem langer Zeitablauf zwischen Vorfall und Urteil sowie besondere persönliche Umstände bei der Tatbegehung.

Liegt eine notstandsähnliche Situation vor, muss das Gericht dies im Urteil im Einzelnen darlegen und begründen. Wird ausnahmsweise vom Fahrverbot abgesehen, soll das Bußgeld angemessen erhöht werden. Bei Alkoholfahrten kommt ein Absehen nur in absoluten Ausnahmefällen in Betracht.

Insgesamt zeigt die Rechtsprechung, dass die Hürden für die Annahme einer notstandsähnlichen Situation im Verkehrsrecht sehr hoch sind. Der Betroffene trägt die Darlegungs- und Beweislast für außergewöhnliche Umstände, die ein Absehen vom Regelfahrverbot im Einzelfall rechtfertigen können.


Inwiefern kann die Nutzung einer Rettungsgasse bei dringendem Bedürfnis gerechtfertigt sein?

Die Nutzung einer Rettungsgasse ist grundsätzlich verboten und nur Einsatzfahrzeugen mit Blaulicht und Martinshorn gestattet. Autofahrer dürfen die Rettungsgasse nicht befahren, auch nicht bei einem dringenden persönlichen Bedürfnis wie einer Notdurft.

Die Rettungsgasse dient ausschließlich dazu, Rettungskräften einen schnellen Weg zur Unfallstelle zu ermöglichen. Jede Minute zählt, um Leben zu retten. Deshalb ist es so wichtig, dass die Gasse frei bleibt. Wer sie unberechtigt befährt, muss mit empfindlichen Bußgeldern rechnen:

  • Einfaches Befahren ohne Folgen: 240 Euro Bußgeld
  • Behinderung von Hilfskräften: 280 Euro
  • Gefährdung anderer: 300 Euro
  • Verursachung eines Unfalls: 320 Euro

Wer die Rettungsgasse absichtlich blockiert oder Einsatzkräfte behindert, begeht sogar eine Straftat und riskiert eine Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren.

Es gibt somit keine Ausnahmen, die ein Befahren der Rettungsgasse durch Privatpersonen rechtfertigen – auch nicht bei Notdurft oder anderen Notfällen. Der Gesetzgeber sieht hier bewusst keine Ausnahmen vor, um den Rettungsweg unbedingt freizuhalten.

Gerät man in eine solche Notlage, muss man andere Wege finden, etwa das nächste Krankenhaus oder eine Nothaltebucht ansteuern. Auf keinen Fall darf man eigenmächtig die Rettungsgasse nutzen und so möglicherweise Menschenleben gefährden. Die persönliche Notlage wiegt hier weniger schwer als die Sicherstellung eines reibungslosen Rettungseinsatzes.


Welche Konsequenzen hat das Verlassen des Fahrzeugs zur Verrichtung der Notdurft im Stau?

Das Verlassen des Fahrzeugs zur Verrichtung der Notdurft im Stau auf der Autobahn kann mehrere rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen:

Verstoß gegen das Betretungsverbot der Autobahn: Laut § 18 Abs. 9 StVO ist es grundsätzlich verboten, die Fahrbahn einer Autobahn zu Fuß zu betreten, auch wenn der Verkehr steht. Ein Verstoß kann mit einem Bußgeld von 10 Euro geahndet werden.

Behinderung des nachfolgenden Verkehrs: Lässt man sein Fahrzeug im Stau stehen, um auszutreten und behindert dadurch den Verkehrsfluss, drohen weitere Bußgelder:

  • Bei einer Behinderung von bis zu 3 Minuten gilt dies als unzulässiges Halten und wird mit 35 Euro Bußgeld belegt.
  • Dauert die Behinderung länger als 3 Minuten, wird es als Parken auf der Autobahn gewertet. Dann drohen 70 Euro Bußgeld und 1 Punkt in Flensburg.

Ordnungswidrigkeit durch Urinieren in der Öffentlichkeit: Das Verrichten der Notdurft in der Öffentlichkeit, auch am Fahrbahnrand, ist generell untersagt. Die Höhe des Bußgelds variiert je nach Kommune.

Eine Notdurft stellt in den meisten Fällen rechtlich keinen Notfall dar, der ein Verlassen des Fahrzeugs auf der Autobahn rechtfertigt. Stattdessen sollten Autofahrer vorausschauend planen, regelmäßig Pausen einlegen und für Notfälle ggf. ein Taschen-WC mitführen.

Nur bei einer Fahrzeugpanne darf man das Auto auf der Autobahn verlassen und sollte dann hinter der Leitplanke Schutz suchen. Ansonsten überwiegen die Gefahren und rechtlichen Risiken eines unerlaubten Autobahn-Betretens die mögliche Erleichterung bei einer Notdurft im Stau.



§ Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils

  • § 25 Abs. 1 S. 1 StVG (Straßenverkehrsgesetz): Dieses Gesetz regelt die Anordnung von Fahrverboten bei groben Verletzungen der Pflichten eines Kfz-Führers. Im vorliegenden Fall war entscheidend, dass trotz der Indizwirkung der Bußgeldkatalogverordnung das Gericht eine Einzelfallprüfung durchführte und zu dem Schluss kam, dass kein Fahrverbot erforderlich ist, da keine grobe Pflichtverletzung vorlag.
  • § 16 OWiG (Ordnungswidrigkeitengesetz): Diese Vorschrift beschreibt die Bedingungen für einen rechtfertigenden Notstand. Im analysierten Fall wurde erörtert, dass der Angeklagte zwar keinen Notstand gemäß dieser Vorschrift hatte, aber eine notstandsähnliche Situation aufgrund dringenden Harndrangs bestand, die bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt wurde.
  • Bußgeldkatalogverordnung (BKatV), insbesondere § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 3: Diese Verordnung enthält Regelbeispiele, die normalerweise ein Fahrverbot indizieren. Jedoch betont das Gericht, dass diese Regelbeispiele nicht von der Notwendigkeit einer sorgfältigen Einzelfallprüfung entbinden, um zu entscheiden, ob tatsächlich ein Fahrverbot angeordnet werden soll.
  • § 11 OWiG: Dieser Paragraph behandelt die Tatbestandsmäßigkeit von Handlungen in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren. Der Fall illustriert, wie das subjektive Empfinden des Betroffenen – in diesem Fall die irrige Annahme, die Rettungsgasse sei freigegeben – die rechtliche Bewertung beeinflussen kann.
  • § 18 Abs. 9 StVO (Straßenverkehrs-Ordnung): Diese Vorschrift verbietet das Betreten von Autobahnen. Dies war relevant, da der Angeklagte argumentierte, er konnte seine Notdurft nicht außerhalb des Fahrzeugs verrichten, was als unzumutbar und gefährlich angesehen wurde.

Jede dieser Vorschriften spielte eine zentrale Rolle in der rechtlichen Argumentation und Entscheidungsfindung des Gerichts und veranschaulicht, wie komplex die Abwägung verschiedener rechtlicher Aspekte in solchen Fällen sein kann.


➜ Das vorliegende Urteil vom Oberlandesgericht Hamm

Oberlandesgericht Hamm – Az.: 5 ORbs 35/24 – Beschluss vom 28.03.2024

Leitsätze:

1. Bei der Frage, ob ein grober Verstoß gegeben ist, sind die Umstände des Einzelfalles – auch unter Berücksichtigung von Irrtumsaspekten – gegeneinander abzuwägen.

2. Bei notstandsähnlichen Situationen (z.B. tatrichterlich festgestelltes dringendes Bedürfnis zur Verrichtung einer Notdurft) kann – je nach den Umständen des Einzelfalls – das Handlungsunrecht für die Anordnung eines Fahrverbots fehlen.


Die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Bochum wird als unbegründet verworfen.

Die Kosten der Rechtsbeschwerde und die notwendigen Auslagen des Betroffenen fallen der Staatskasse zu Last (§ 79 Abs. 3 OWiG i.V.m. § 473 Abs. 1, 2 StPO).

Gründe

I.

Das Amtsgericht Witten hat den Betroffenen durch Urteil vom 28.11.2023 wegen fahrlässiger unberechtigter Benutzung einer freien Gasse für die Durchfahrt von Polizei- oder Hilfsfahrzeugen auf einer Autobahn mit einem Fahrzeug zu einer Geldbuße in Höhe von 240 Euro verurteilt und von der Verhängung eines Fahrverbots abgesehen. Gegen dieses Urteil richtet sich die (zulässige) Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Bochum, die die Verletzung materiellen Rechts rügt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch mit den insoweit getroffenen Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Witten zurückzuverweisen.

II.

Die zu Lasten des Betroffenen eingelegte Rechtsbeschwerde ist unbegründet, da das angefochtene Urteil keinen Rechtsfehler aufweist. Das Tatgericht ist im Rechtsfolgenausspruch in rechtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass – trotz der Indizwirkung der Bußgeldkatalogverordnung (§ 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BKatV) – kein Fall der groben Verletzung der Pflichten eines Fahrzeugführers i.S.v. § 25 Abs. 1 S. 1 StVG vorliegt; im Einzelnen:

1)

Eine grobe Pflichtverletzung liegt dann vor, wenn die Pflichtverletzung des Betroffenen objektiv abstrakt oder konkret besonders gefährlich gewesen ist (vgl. OLG Düsseldorf Entscheidung v. 28.7.1998 – 5 Ss (OWi) 235/98 = BeckRS 1998, 155012, beck-online). Hinzukommen muss, dass der Täter auch subjektiv besonders verantwortungslos handelt (vgl. BGH, NZV 1997, 525, beck-online). Regelbeispiele für ein derartiges Verhalten finden sich in § 4 Abs. 1, 2 BKatV. Bei diesen Katalogtaten ist das Vorliegen einer groben Verletzung der Pflichten eines Kfz-Führers zwar indiziert (vgl. BGHSt 38, 125 (134) = NZV 1992, 117); die Regelbeispiele ersetzen aber nicht gesetzliche Merkmal des § 25 I StVG. Die Bußgeldkatalogverordnung befreit daher die Tatgerichte nicht von der Erforderlichkeit einer Einzelfallprüfung; sie schränkt nur den Begründungsaufwand ein (vgl. BVerfG, DAR 1996, 196 (198) = NZV 1996, 284; BGHSt 38, 125 (136) = NZV 1992, 117 (120). Dementsprechend muss eine im Sinne der Regelbeispiele der Bußgeldkatalogverordnung tatbestandsmäßige Handlung dann (ausnahmsweise) nicht zwingend mit einem Fahrverbot geahndet werden, wenn als Ergebnis der gebotenen Würdigung der Umstände des Einzelfalles eine grobe Pflichtverletzung – sei es in objektiver oder in subjektiver Hinsicht –ausscheidet (vgl. BGH NZV 1997, 525, beck-online). Bei der Frage, ob ein grober Verstoß gegeben ist, sind die Umstände des Einzelfalles – auch unter Berücksichtigung von Irrtumsaspekten – gegeneinander abzuwägen (vgl. OLG Bamberg Beschl. v. 1.12.2015 – 3 Ss OWi 834/15, BeckRS 2015, 20269 Rn. 12, beck-online).

2)

Das Amtsgericht hat in der angefochtenen Entscheidung im Einzelnen dargelegt, warum es im vorliegenden Einzelfall von der Anordnung des einmonatigen Fahrverbots ausnahmsweise abgesehen hat (vgl. UA S. 6 – 8). Zwar deuten die Urteilsgründe darauf hin, dass das Amtsgericht von einem Erlaubnistatbestandsirrtum des Betroffenen ausgeht, obwohl die irrige Annahme des Betroffenen von der Freigabe des Verkehrs die Tatbestandsmäßigkeit des Handelns (§ 11 OWiG) betrifft. Allerdings beruht die angefochtene Entscheidung nicht darauf, da diese Erwägung nicht tragend ist. Vielmehr stellt das Tatgericht bei seiner Begründung des Absehens vom Fahrverbot darauf ab, dass der Betroffene nach den Umständen des Einzelfalls subjektiv nicht besonders verantwortungslos handelte. Das ist rechtlich nicht zu beanstanden.

3)

Es ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannt, dass in notstandsähnlichen Situationen (konkret: dringendes Bedürfnis zur Verrichtung der Notdurft) das Handlungsunrecht für die Anordnung eines Fahrverbotes – je nach den Umständen des Einzelfalls – fehlen kann (vgl. bei Geschwindigkeitsverstößen: OLG Hamm Beschl. v. 10.10.2017 – 4 RBs 326/17 = BeckRS 2017, 129512 Rn. 7, beck-online; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 19.12.1996 – 1 Ss 291/96 = NStZ-RR 1997, 379, beck-online; OLG Brandenburg (1. Strafsenat – Senat für Bußgeldsachen), Beschluss vom 25.02.2019 – (1 B) 53 Ss-OWi 41/19 (45/19) = BeckRS 2019, 2716, beck-online). Das ist hier auf der Grundlage – der revisionsrechtlich ohnehin nur beschränkt überprüfbaren – Feststellungen des Amtsgerichts der Fall. Das Handeln des Betroffenen stellt in subjektiver Hinsicht kein besonders vorwerfbares Verhalten dar. Nach den amtsgerichtlichen Feststellungen neigte der Angeklagte aufgrund der von ihm eingenommenen Medikation zu einem erhöhten Harndrang, der bereits kurz nach Beginn des Staus einsetzte. Zudem ist er im Hinblick auf den wiedereinsetzenden Verkehr davon ausgegangen, die Rettungsgasse bereits wieder befahren zu dürfen. Insoweit liegt zwar weder ein Notstand i.S.v. § 16 OWiG noch ein Erlaubnistatbestandsirrtum vor. Allerdings befand sich der Betroffene in einer – durch Medikamentenwirkung hervorgerufenen – notstandsähnlichen Situation; dazu hat das Amtsgericht festgestellt, dass zum Tatzeitpunkt bereits ein erheblicher Harndrang bzw. Druckgefühl vorhanden war (vgl. UA S. 6). Entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft konnte der Betroffene auch nicht etwa seine Notdurft außerhalb des Fahrzeugs verrichten. Denn – worauf die Verteidigung in ihrer Stellungnahme zur Antragsschrift zu Recht hinweist – ein Betreten der Autobahn ist grundsätzlich nicht erlaubt (§ 18 Abs. 9 StVO). Außerdem wäre ihm dieses Handeln unter dem Gesichtspunkt naheliegender Eigengefährdung rechtlich nicht zumutbar gewesen.

Des Weiteren war seine Pflichtverletzung als Fahrzeugführer in subjektiver Sicht infolge der – irrigen – Annahme der Verkehrsfreigabe nicht besonders verantwortungslos. Der Einwand der Generalstaatsanwaltschaft, der Betroffene habe durch sein Verhalten die Notstandslage erst herbeigeführt, verfängt nicht. Ausweislich der Feststellungen verspürte er den Harndrang bereits fünf Minuten, nachdem der Stau einsetzte. Es gehört jedenfalls nicht zu den Pflichten eines Fahrzeugführers, seine Toilettenverhalten bzw. Toilettengangintervalle nach einem unvorhersehbaren Stauereignis auszurichten.

Letztlich ist auch zu berücksichtigen, dass der Erfolgsunwert infolge der zwischenzeitlich erfolgten Verkehrsfreigabe objektiv nicht von besonderem Gewicht war.

 

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