AG Cloppenburg, Az.: 25 OWi 484/10, 25 OWi 795 Js 28862/10 (484/10), Urteil vom 17.09.2010
Die Betroffene wird auf Kosten der Staatskasse, die auch ihre notwendigen Auslagen erstattet, freigesprochen.
Gründe
Mit Bußgeldbescheid des Landkreises Cloppenburg vom 06.04.2010 wird der Betroffenen vorgeworfen am 02.12.2009 gegen 10:42 Uhr mit dem PKW BMW, amtliches Kennzeichen … die S… Straße (K 297) in F… – S… bei KM 3.200 in Fahrtrichtung B 401 mit einer Geschwindigkeit von 109 km/h befahren zu haben und damit die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h um 39 km/h überschritten zu haben.
Diese Tat konnte der Betroffenen nicht nachgewiesen werden, weshalb aus tatsächlichen Gründen ein Freispruch erfolgte.
Zwar wurde die Geschwindigkeit mit der Infrarot-Geschwindigkeitsmessanlage LEIVTEC XV 2 mit Sony FX-700-E Camcorder und Kabelfernbedienung in der Betriebsart „automatisch“ gemessen und die Geschwindigkeitsmessanlage besitzt eine generelle Zulassung der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) Braunschweig und ist geeicht.
Jedoch unterliegen die entscheidenden Aufzeichnungen in Form der in der Akte befindlichen Lichtbilder und des in der Akte befindlichen Videos (Bl. 1 und 31 bis 36 der Akte und Hülle Bl. 7 Gerichtsakte) einem Beweisverwertungsverbot.
Denn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass es sich vorliegend um Aufzeichnungen handelt, die mit einem Grundrechtseingriff für die Betroffene, nämlich in ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht, verbunden sind. Hierfür bedarf es einer gesetzlichen Grundlage, die vorliegend nicht existiert. Einzig denkbare gesetzliche Grundlage für diesen Grundrechteingriff ist § 100h Absatz 1 Nr. 1 StPO in Verbindung mit § 46 OWiG. Danach dürfen auch ohne Wissen der Betroffenen außerhalb von Wohnungen Bildaufnahmen hergestellt werden, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise weniger erfolgversprechend ist. Nach § 100h Absatz 2 StPO dürfen sich diese Maßnahmen nur gegen Beschuldigte richten und sind gegen andere Personen nur zulässig, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise erheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich erschwert wäre. Voraussetzung ist mithin, dass es bereits zumindest einen sog. Anfangsverdacht für eine Straftat bzw. Ordnungswidrigkeit gibt. Ein Anfangsverdacht ist gegeben, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfolgbare Straftat/ Ordnungswidrigkeit vorliegen, arg e §§ 152 Absatz 2 StPO in Verbindung mit 46 OWiG. Der Anfangsverdacht muss in konkreten Tatsachen bestehen und die Frage, ob zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen ist keine Ermessensentscheidung, auch wenn ein gewisser Beurteilungsspielraum besteht (Vgf. Meyer-Goßner, § 152 StPO, Rz. 4 mit weiteren Nachweisen). Der Anfangsverdacht muss es nach den kriminalistischen Erfahrungen als möglich erscheinen lassen, dass eine verfolgbare Straftat/ Ordnungswidrigkeit vorliegt (ebenda). Dazu genügen auch entfernte Indizien; bloße Vermutungen rechtfertigen es jedoch nicht jemandem eine Tat zur Last zu legen (ebenda).
Vorliegend erfolgte die Messung mit dem Messsystem LEIVTEC XV 2. Bei diesem Messverfahren startet die Videoaufzeichnung notwendigerweise gleichzeitig mit der Geschwindigkeitsmessung, d. h. das betreffende Fahrzeug wird von Beginn der Messung an anvisiert, überwacht, per Video aufgezeichnet und gespeichert. Erst im Nachhinein stellt sich heraus, ob eine Ordnungswidrigkeit begangen wurde oder nicht. Die eigentliche Aufzeichnung wird oft bereits vor Beginn der Messung gestartet, weil die Aufzeichnung im Dauerbetrieb erfolgt und nur über eine Fernbedienung durch den Messbediensteten zwischendurch gestoppt und gestartet wird.
Zwar sind die Messbediensteten angewiesen, keine Daueraufzeichnung vorzunehmen und die Aufzeichnung jeweils im Einzelfall mittels der Fernbedienung zu starten. Um zu diesem Zweck den Verkehr bereits frühzeitig über den Monitor im Fahrzeug des Messbediensteten beobachten zu können, wird hierzu eine mittels Joystick zu bedienende Schwenkeinrichtung für die Kamera verwendet. Dies ist dem Gericht bekannt aufgrund eigener Anschauung im Rahmen einer Vorführung der Verkehrsüberwachungsanlage durch den Landkreis. Danach erscheint es grundsätzlich möglich bei entsprechend zurückhaltender Einschätzung und mit der erforderlichen Übung, Geschwindigkeitsüberschreitungen in einer gewissen Größenordnung einzuschätzen, wenn die betreffende Messstrecke dies erlaubt. Für jede Messstrecke erscheint dies jedoch nicht möglich, ebenso wie für geringe Geschwindigkeitsüberschreitungen mangels Wahrnehmbarkeit mit dem bloßen Auge.
Vorliegend wurde in einem Moorgebiet gemessen, wo die Straße über viele Bodenwellen verfügt, so dass eine zuverlässige Einschätzung der Geschwindigkeit nahezu unmöglich erscheint. Hinzu kommt, dass diese Einschätzung auch stark vom Fahrzeugtyp abhängig ist. Insgesamt ist die Einschätzung sehr subjektiv und nicht überprüfbar. Zumal, wie dem Video zu entnehmen ist, der Messbedienstete vor Ort kaum Überlegungszeit hat und häufig mit der Situation konfrontiert wird, dass er ein Fahrzeug gemessen hat mit dem Ergebnis einer sog. „Slowmessung“, d. h. dass der eingegebene Grenzwert nicht überschritten wurde und gleichwohl das unmittelbar nachfolgende Fahrzeug erneut anvisiert und aufzeichnet in der Annahme, dieses könne zu schnell sein.
Der in der mündlichen Verhandlung vernommene Messbedienstete O… hat als Zeuge hierzu bekundet, dass er über den Monitor den ankommenden Verkehr beobachtet hat und wenn er der Meinung sei, dass ein Fahrzeug zu schnell ist, die Aufnahme startet und anschließend wieder beendet. Im Laufe der Zeit habe er ein Gefühl für diese Einschätzung bekommen. Genau beschreiben könne er das nicht. Bei der Messstelle hier handele es sich um eine moorige Gegend, wo die Straße viele Bodenwellen aufweist. Da mache er die Geschwindigkeitsschätzung daran fest, ob ein „Auto zu schwimmen anfängt“. Nicht immer werde sofort nach Ende der Messung die Aufzeichnung gestoppt, weil es auch sog. Überholer gebe oder hin und wieder nachfolgende Fahrzeuge ebenfalls zu schnell sind. Auch wenn ein Fahrzeug mit „Slow“ gemessen werde, komme es vor, dass ein nachfolgendes Fahrzeug den eingestellten Grenzwert überschreite. Am 02.12.2009 sei es so gewesen, dass er von den aufgezeichneten Fahrzeugen 37 mit „Slow“ gemessen habe und 27 Fahrzeuge mit einer überhöhten Geschwindigkeit. Wieviele Fahrzeuge insgesamt durchgefahren sind, konnte er nicht sagen, weil hierzu keine Feststellungen getroffen werden.
Diese Art und Weise der Festlegung eines „Anfangsverdachts“ begründet jedoch erhebliche Zweifel. Sie ist nach Ansicht des Gerichts nicht ausreichend, um einen Anfangsverdacht im Sinne des § 100 h StPO zu begründen. Denn maßgeblich für die Entscheidung, ob eine Aufnahme erfolgt oder nicht, sind Vermutungen des Messbediensteten, die nicht auf objektivierbare und überprüfbare Vorgänge gestützt werden, wie z. B. die Erfahrung, dass wenn ein Fahrzeug für die Bewältigung einer bestimmten Strecke eine bestimmte Zeit benötigt, dann überschreitet es die Geschwindigkeit voraussichtlich. Vielmehr wird vorliegend nur auf das Augenmaß und das Gefühl des Messbediensteten abgestellt, der sich von der Lage des Fahrzeugs auf der Fahrbahn (Schwimmen“) leiten lässt. Diese ist jedoch, was allgemein bekannt ist, nicht nur geschwindigkeitsabhängig, sondern zudem maßgeblich beeinflusst vom Fahrzeugtyp und -zustand und vom Fahrbahnzustand. Als verlässlicher Parameter erscheint dies ungeeignet. Dies bestätigt sich im übrigen durch die vom Zeugen selbst angegebene hohe Fehlerquote von 37 Aufzeichnungen ohne Verstoß im Verhältnis zu 27 Aufzeichnungen mit Verstoß.
nicht entgegen, dass bei diesem Messverfahren im Rahmen der Auswertung über den Bildausschnitt jeder aufgenommenen Sequenz ein Raster gelegt wird. Nur im Falle einer Messung mit Überschreitung des eingegebenen
Geschwindigkeitsgrenzwertes, verschwindet das Raster automatisch, das Video wird dann automatisch angehalten, zurück gespult und erneut wieder ohne Raster abgespielt.
Dieses bedeutet jedoch nicht, dass zum einen kein Grundrechtseingriff mit der Videoaufzeichnung verbunden ist und zum anderen eine mit einem Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht verdachtsbezogen und damit von einer Gesetzesgrundlage erfasst erfolgt ist.
Denn das Raster wird nicht bereits bei der Aufzeichnung der Sequenz über den Bildausschnitt gelegt, sondern erst im Nachhinein im Rahmen der Auswertung mittels des Demodulators. Die eigentliche Videoaufzeichnung existiert zu diesem Zeitpunkt bereits ohne übergelagertes Raster.
In der Bedienungsanleitung heißt es hierzu wie folgt: „Das Sensorsystem LEIVTEC XV2 zeichnet Messszenen auf ein Hi8-Viedeoband auf und legt zeitgleich dazu die für die Auswertung erforderlichen Daten (Datum, Zeit, Wer, Wo, Ist, Soll) codiert auf der Tonspur dieses Videobandes ab. Der Demodulator dient zur Auswertung eines mit dem XV2-Sensor aufgezeichneten Videobands. Die Videoszene kann mit den dazugehörigen Messwerten an einem handelsüblichen Monitor betrachtet werden. Beim Abspielen eines XV2-Videobands prüft der Demodulator alle Daten auf der Audiospur auf Geschwindigkeitsüberschreitungen. Nach Auffinden einer Geschwindigkeitsüberschreitung wird der Videorekorder über seine Fernbedienungs-Schnittstelle (Remote) vom Demodulator in den Bereich der 10m-Messstrecke positioniert. Danach blendet der Demodulator die Messdaten in das Videobild ein. Mit Hilfe der Videorekorder-Einzelbild-Weiterschaltung kann das Videoband innerhalb der 10m-Messstrecke positioniert werden. In der Betriebsart „Rechnergestützte Auswertung“ können die Messdaten zu einem angeschlossenen Auswerterechner übertragen und dort archiviert oder weiterverarbeitet werden. Außerdem können über den Auswertrechner Kommandos zur Video-Positionierung an den Demodulator gesendet werden. Solange keine gültige Messszene gefunden ist, wird das Videobild aus Gründen des Datenschutzes durch Überlagerung einer Maske unkenntlich gemacht. Erst nach der Positionierung des Videobands in den Bereich der Messstrecke wird das Videoband „freigegeben“.
…
„Die Auswertung des Videobandes wird mit PLAY-Taste des Videorekorders gestartet. Das Band wird abgespielt und dabei das Raster überlagert, bis ein Fahrzeug den als SOLL eingegebenen Grenzwert erreicht oder überschritten hat. Der Videorekorder wird automatisch gestoppt. Auf dem Monitor erscheint die Statusmeldung „Video positionieren“. Das Videoband wird an den Anfang der Messung zurückgespult. Das Raster wird ausgeblendet und das Fahrzeug im Standbild mit eingeblendeten Messdaten gezeigt. Zur Dokumentation der Geschwindigkeitsüberschreitung können Videoprints ausgedruckt werden.“
Der Verteidiger hat die Unverwertbarkeit der Videoaufzeichnung und der angefertigten Printausdrücke gerügt.
Das Gericht ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die vorliegend gefertigten Aufzeichnungen, die mit einem Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen verbunden waren und die nicht durch ein Gesetz im Sinne von Artikel 19 Absatz 1 Grundgesetz gerechtfertigt waren, einem Beweisverwertungsverbot unterliegen. Denn anders wäre ein effizienter Schutz der Grundrechte nicht möglich.
Ohne die Verwertung der Printausdrucke und des Videos jedoch ist weder zu beweisen, dass die Betroffene zur Tatzeit das Tatfahrzeug geführt hat und die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten hat. Ferner ist ohne diese Verwertung nicht feststellbar, ob die Messung fehlerfrei erfolgt ist, da ohne Verwertung des Lichtbildmaterials nicht beurteilt werden kann, ob bei Start der Messung ein weiteres Fahrzeug im Messfeldrahmen war, dass die Messung beeinflusst haben könnte.
Die Betroffene war danach aus tatsächlichen Gründen freizusprechen. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus dem Gesetz.